02.05.2023
WALTER BAIER: MARXISMUS – Geschichte und Themen einer praktischen Theorie

Der Autor Walter Baier ist Ökonom in Wien. Er leitete von 2007 bis 2020 die Ideenfabrik der Partei der europäischen Linken tranform! europe. Von 1994 bis 2006 war er Vorsitzender der Kommunistischen Partei Österreichs und Herausgeber der Wochenzeitung „Volksstimme“.

In der Einleitung schreibt Walter Baier: »Uns mag heute die Verbindung einer Wissenschaft, an der unzählige berühmte und vergessene Theoretikerinnen und Theoretiker mitgewirkt haben und mitwirken, mit dem Namen einer einzigen Person befremden, Friedrich Engels schrieb jedenfalls, als die sozialistische Theorie nach Marx’ Tod dabei war, die junge Arbeiterinnen und Arbeiterbewegung zu erobern: Der größte Teil der leitenden Grundgedanken, besonders auf ökonomischem und geschichtlichem Gebiet, und speziell ihre schließliche, scharfe Form, gehört Marx […] ohne ihn wäre die Theorie heute bei weitem nicht das, was sie ist. Sie trägt daher auch mit Recht seinen Namen.«

Wozu aber taugt der Marxismus überhaupt? Seit Marx und Engels ist der Sozialismus zu einer weltweiten politischen und geistigen Strömung geworden. Arbeiterbewegungen, nationale Befreiungsbewegungen, Friedens- und antifaschistische Bewegungen beriefen sich auf ihn. Die marxistische Theorie wurde und wird in der Philosophie, der Ökonomie, der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Psychologie, der Ästhetik und vielen anderen Bereichen angewendet. Feministinnen, Ökologinnen und Ökologen, Politikerinnen, sogar Theologinnen bedienen sich ihrer. Der italienische Kommunist Antonio Gramsci hatte in den Gefängnisheften die Frage aufgeworfen, wie wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse, die in der Sprache eines jeweiligen Fachgebiets oder einer jeweiligen Epoche verfasst sind, in die eines anderen Fachgebiets oder einer anderen Epoche übersetzt werden könnten. Darin sah er eine Aufgabe des Marxismus.

Das Problem stellte sich für die Bewegungen, die sich dem Kapitalismus entgegensetzten, nicht weniger als für die Wissenschaften, und heute, da die politische und soziale Kritik zersplittert ist, ist es dringender denn je.

Könnte der Marxismus den sozialen Bewegungen die Lingua franca bereitstellen? Im 20. Jahrhundert war das der Fall, als marxistische Vokabel, Kapitalismus, Imperialismus, Ausbeutung, Entfremdung, Hegemonie etc., in die Sprache der sozialen Bewegungen und über diese in den Alltagsgebrauch eingegangen sind. Warum aber könnte heute der Marxismus wieder den Anspruch erheben, eine Universalsprache der sozialen Bewegungen zu sein?

Den kommunistischen Parteien, die in Osteuropa autoritär regiert und in einigen westeuropäischen Ländern über beachtlichen Masseneinfluss verfügt hatten, mochte sich diese Frage gar nicht stellen. Denn jahrzehntelang war es eine schier ausgemachte Sache, dass sich der Antikapitalismus in dem von ihnen verkörperten Marxismus ausdrückte. Zumindest schien es die herrschende Klasse so zu sehen. Doch mit dem Verschwinden der kommunistischen Machtpositionen zeigten sich auch die Grenzen dieser Version des Marxismus.
khw


WALTER BAIER: MARXISMUS
Geschichte und Themen einer praktischen Theorie

In der Reihe mandelbaum kritik & utopie, Wien-Berlin 2023
311 Seiten – 22,00 EUR