02.07.2022
Herman Seidl: WARTEN AUF GODEAU
30 Jahre am Straßenrand der TOUR DE FRANCE

Am 1. Juli 2022 begann wieder mit Einzelzeitfahren die Tour de France. In diesem Jahr starte sie in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Nach dem Start geht die Fahrt durch Dänemark, am 2. Juli von Roskilde nach Nyborg, dem schließt sich am 3. Tag die Strecke von Vejle nach Sønderborg an. Dann geht der Tross nach Frankreich. Hier startet die Tour in Dunkerque, es geht weiter nach Calais. Noch ist es eine Tour der Leiden und des Dopings.

Der Fotojournalist Herman Seidl hat dreißig Jahre die Tour de France aus einer völlig neuen Perspektive vom Straßenrand aus aufgenommen. Noch immer ist die Tour de France eines der weltweiten Sportereignisse. Seidls Fotos zeigen, dass vom Flachland bis in die Höhen der französischen Gebirge wie jeden Juli Millionen von begeisterten Fans dieses Sportereignis entlang der Rennstrecke verfolgen. Dann feuern sie das Peleton mit Inbrunst und ausgefallenen Requisiten an.

Über seine Fotos schreibt der Autor: »In einem Zeitraum von dreißig Jahren bin ich fünfundzwanzigmal nach Frankreich gereist, um die Tour de France Cycliste zu fotografieren. Zweck dieser Reisen waren fotografische und journalistische Reportagen – zuerst für diverse deutschsprachige, dann aber auch für internationale Magazine. Ab Anfang der Nullerjahre fotografierte ich für ein professionelles Rennteam und für zwei Fotoagenturen in Italien und Österreich. Was mich besonders an dieser Arbeit gereizt hat? Die Millionen von Menschen unterschiedlicher Schichten und Altersklassen, die sich Jahr für Jahr im Juli entlang des Parcours zu enthusiastischen Teilnehmerinnen dieses »epischen Schauspiels« formieren. Ihr Habitus und ihre Inszenierung in den französischen Landschaften wurden zum Hauptgegenstand meiner ganz persönlichen fotografischen »Studie«.

1987 bin ich das erste Mal mit meinen Kameras nach Frankreich gefahren – meine Vorstellung der Tour de France beruhte auf Fotografien aus alten Magazinen und Büchern. Gleich bei meinem ersten Besuch stellte ich jedoch fest, dass die Tour mehr ist als eine der größten jährlich stattfindenden Sportveranstaltungen: Die Tour de France ist ein episches Schauspiel, mit allem, was dazu gehört: Glück, Freude, Spannung, Drama, Siege, Niederlagen, Kommerz. Kaum jemand kann sich diesem energetischen Spektakel entziehen. Ich war sofort ergriffen von dem immensen Enthusiasmus der Menschen am Rand der Straßen. Es ist vor allem die Energie der begeisterten Zuschauerinnen, die grenzenlose Leidenschaft des lokalen Publikums und der extra angereisten internationalen Fans, die die Faszination der Tour de France ausmachen.

Die euphorischen Zuschauermassen sind faszinierend. Doch nicht immer ist das Publikum wohlgesinnt; die unglaubliche Popularität der Tour de France nutzen Einheimische teilweise, um gegen ungerechte Steuern zu protestieren – da fliegen auch schon einmal Hunderte Nägel auf den heißen Asphalt.

Mit dem Resultat, dass nicht nur die Rennfahrer, sondern vor allem die mitfahrenden Journalistinnen und Fotografinnen mit Reifendefekten zu kämpfen haben. In meinem Fall waren es gleich drei Pneus. Der lokale Reifenhändler kam an seine Kapazitätsgrenze, als er für sechzig Fahrzeuge neue Reifen beschaffen musste!

Der humanistische Aspekt und die Neugierde auf das Leben sind die Triebfeder meiner fotografischen Arbeit. Am besten sind die Resultate, wenn noch eine Prise Skurrilität und Humor dabei ist. In der Vergangenheit haben berühmte Fotografen wie Henri Cartier-Bresson und Robert Capa gezeigt, dass es lohnender sein kann, die Kamera auf die Zuschauer zu richten, anstatt sich auf das vermeintliche Hauptmotiv zu konzentrieren. Capas Bilder von der Tour de France 1939, die er im Auftrag der Zeitschrift Paris Match machte, sind legendär.« – Lesenswert.
khw


HERMAN SEIDL: WARTEN AUF GODEAU
30 Jahre am Straßenrand der TOUR DE FRANCE

DuMont Buchverlag, Köln 2022
160 Seiten – 78 Farbfotos – 20,00 EUR