23.12.2021
Friedrich Kiessling/Christoph Safferling: STAATSSCHUTZ IM KALTEN KRIEG
Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF

Viel zu spät hat die Bundesanwaltschaft ihre Nachkriegsgeschichte von Friedrich Kiessling, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn und Christoph Safferling, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht aufarbeiten lassen. Die Wissenschaftler sprechen von schwerer Hypothek und meinen nicht nur die personelle Kontinuität vom Nationalsozialismus zur Bonner Republik. Für zahlreiche der früheren Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft bedeutet die juristische Verfolgung von Kommunisten in der Bundesrepublik eine nahtlose Fortsetzung ihrer Arbeit, die sie bereits im NS-Staat taten. Andere der neuen Staatsanwälte der Bundesrepublik hatten sich erste Sporen verdient in spektakulären Strafprozessen gegen Kommunisten in der Weimarer Republik. Dagegen fiel in der Bundesstaatsanwaltschaft die Verfolgung von NS-Tätern und Neonazis in den Anfangsjahren bedenklich gering aus. Das war ein Phänomen da die Bundesstaatsanwaltschaft auf ihrem rechten Auge bedenklich blind war, dafür war der Verfolgungseifer gegen alles was links ist, ungleich größer.

Erstmalig untersuchen die Autoren besonders die Jahre 1950 bis 1974 der Bundesanwaltschaft, so ist der Band eine faktenreiche historische Studie. Die Autoren stellen fest, dass noch zu Beginn der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD im Jahr 1966 zehn von elf Bundesstaatsanwälten ehemalige NSDAP-Mitglieder waren. Es war die Deutsche Demokratische Republik, die mit ihrem „Braunbuch“ auf die NS-Verstrickung in der bundesdeutschen Justiz hinwies.

Man kann sagen, im „Kalten Krieg“ blieb der bundesrepublikanische Rechtsstaat auf der Strecke. Dazu gehört auch der Großangriff auf das Magazin am Montag aus Hamburg. Was bei den Kommunisten ausprobiert war, setzte sich beim Magazin „Der Spiegel“ fort. Das Verfahren, was am 30. Oktober 1962 begann, schleppt sich bis in den Oktober 1966 hin. Inzwischen war den Bundesstaatsanwälten klar, dass man dem Hamburger Magazin keinen Geheimnisverrat vorwerfen kann. Eine Ministerriege plädierte für die Einstellung des Verfahrens. Nur der Bundesstaatsanwalt Ludwig Martin wehrte sich verbissen dagegen, lenkte ein als Bundeskanzler Ludwig Erhard einen Schlussstrich wünschte, dieser kam am 25. Oktober 1966.

Weitere Themen sind im Band Verfolgung von NS-Verbrechen in Karlsruhe und Ludwigsburg, der Auswitz-Prozess, Stammheim und der „RAF-Prozess“ und die Verfolgung von Homosexuellen in der jungen Bundesserepublik.

Für dieses Buch wurde erstmals die Geschichte der Bundesanwaltschaft zwischen 1950 und 1974 anhand der behördlichen Akten erforscht. Damit auch das Schlaglicht auf die hochaktuelle Frage, wie eine Demokratie den Staat schützen kann, ohne die eigenen Werte zu verraten.

Lesenswert das auch vor dem Auftreten der „Corona-Leugner“ heute.
khw


Friedrich Kiessling/Christoph Safferling:
STAATSSCHUTZ IM KALTEN KRIEG - Die Bundesstaatsanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF

dtv Verlagsgesellschaft, München 2021
607 Seiten - 35,00 EUR