16.04.2024
René Viénet: Paris Mai 68 – Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen

ÜBERALL MUSS DAS UNGLÜCK ZURÜCKGESCHLAGEN WERDEN so wird der Band zum Mai 68 eingeleitet. Schnell war eine der Parolen, die im Mai 1968 auf den Mauern auftauchten gefunden. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es umfasst eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmungen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und atmen empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit aus.

Etwas weniger schnell erschien die erste Übersetzung in deutscher Sprache, immerhin schon 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung vom Mitgründer des Verlags Pierre Gallissaires und Barbara Merkel). Die Übersetzung war wie viele der damaligen Zeit roh und unprofessionell, was uns aber nicht störte. Hauptsache: Sie war da! Mit dieser Ausgabe kann nun erstmalig eine lese freundlichere Version studiert werden, die durch die Beibehaltung des damaligen Sprachduktus noch sperrig genug ist.

Schnell wurden auch in jenem Mai die Erfahrungen aus dem historischen Gedächtnis hervorgeholt: die Pariser Commune von 1871, die Räterevolution in Russland 1905, die anarchistische Machnowtschina 1917–1921 im Gebiet der heutigen Ukraine, der Aufstand der Matrosen von Kronstadt 1921, der Matrosenaufstand die Selbstverwaltung in Spanien 1936, die Ungarische Revolution 1956. Das war der Resonanzraum, in dem die Revoltierenden, so wie sie hier geschildert werden, mit der Waffe ihrer subjektiven Empörung loslegten.

Allerdings hatte die Situationistische Internationale, deren Mitglied René Viénet seit 1966 war, schon seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer „Neudefinition der Revolution“ gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption außerhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung vorhergesehen. Sie war also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatte ein Verständnis von dem, was sich abspielte.

Die Situationistische Internationale (S.I.) war eine 1957 gegründete linke Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller. Darunter waren politische Theoretiker, Architekten und freischaffende Künstler, waren vor allem in den 1960 Jahren in Frankreich aktiv. Die Situationisten beeinflussten die Linke, das speziell im Umfeld des Pariser Mai 1968, in der Entwicklung der Methoden der Kommunikationsguerilla und die internationale Kunstszene, hier besonders der Popkultur. Die Mitgliederzahlen waren zwischen zehn und fünfundzwanzig. Die Gruppe gab ihre Selbstauflösung bekannt.

Die Ukraine 1917-21 und der Matrosenaufstand 1921 kann auch anders gesehen werden. Spanien 1936 war ein Putsch von Rechts mit Hilfe des Militärs, des katholischen Klerus, der Hilfe von Hitler Deutschland und den Schwarzhemden Benito Mussolinis. Ungarn 1956 hatten die Amerikaner ihre Hand mit im Spiel.
Der Band führt in die Situation des Mai 1968 vor allem bei jungen Menschen ein.
khw



René Viénet: Paris Mai 68
Wütende und Situationisten in Bewegung der Besetzung

Verlag Edition AV, Bodenburg 2024
281 Seiten – 18,00 EUR