04.11.2020
Timothy Snyder: DIE AMERIKANISCHE KRANKHEIT
Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital

Der Autor Timothy Snyder, geboren am 18. August 1969, ist ein US-amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University in New Haven, Connecticut. Seine Forschungsschwerpunkte sind Osteuropäische Geschichte und die Holocaustforschung.

Wie der Autor »Die amerikanische Krankheit« erlebte beschreibt Timothy Snyder im Klappentext des Bandes. Am 29. Dezember 2019 wurde der Historiker Snyder ernsthaft krank. Er konnte nicht mehr stehen, kaum noch klar denken und wartete stundenlang in der Notaufnahme, bevor er untersucht und eilig in den Operationssaal gebracht wurde. Während sein Leben an einem seidenen Faden hing und das neue Jahr begann, wurde ihm bewusst, wie profitorientiert das Gesundheitswesen in den USA ist und wie wenig alle Rechte und Freiheiten wert sind, wenn das Menschenrecht auf eine gute medizinische Versorgung nicht dazu gehört. Hinzu kam noch die Pandemie, die das Land schnell eroberte. Die republikanische Ronald Trump Regierung machte vieles noch schlimmer durch Ignoranz, Desinformation und Machtspiele. Das Gesundheitssystem stand vor seinem ultimativen Test, und es versagte. Tausende von Amerikanern starben. In diesem augenöffnenden Cri de Coeur rekonstruiert der Autor die sozialen Entwicklungen, die zu der aktuellen Lage geführt haben, und er beschreibt die Lehren, die daraus gezogen werden müssen. Auch beleuchtet er die dunklen Momente der US-Geschichte, auch aus seinem eigenen Leben. Snyder zeigt, welche vier Prinzipien beherzigt werden müssen, damit die Vereinigten Staaten von der amerikanischen Krankheit geheilt werden.

Timothy Snyder: »Am 29. Dezember, nach siebzehn Stunden in der Notaufnahme, wurde ich an der Leber operiert. Als ich in den frühen Morgenstunden des 30. Dezember auf dem Rücken in einem Krankenhausbett lag, mit Schläuchen in Armen und Brust, konnte ich meine Fäuste nicht ballen, aber ich stellte mir vor, wie ich meine Fäuste ballte. Ich konnte meinen Körper nicht auf meinen Unterarmen aus dem Bett hieven, aber ich stellte mir in Gedanken vor, wie ich das tat. Ich war nur ein weiterer Patient auf einer weiteren Krankenhausstation, eine weitere Ansammlung versagender Organe, ein weiteres Gefäß voll infiziertem Blut. Aber ich fühlte mich nicht so. Ich fühlte mich wie ein bewegungsunfähiges, wutentbranntes Ich.

Die Wut war wunderbar rein, unbefleckt durch irgendeinen Gegenstand, auf den sie sich richtete. Ich war nicht wütend auf Gott; es war nicht seine Schuld. Ich war nicht wütend auf die Ärzte und die Krankenschwestern, unvollkommene Menschen in einer unvollkommenen Welt. Ich war nicht wütend auf die Fußgänger, die sich jenseits meiner Kammer aus verknäulten Laken und Schläuchen frei durch die Stadt bewegten, nicht auf die Lieferanten, die ihre Wagentüren zuknallten, nicht auf die Lastwagenfahrer, die lautstark hupten. Ich war nicht wütend auf die Bakterien, die sich an der reichen Gabe meines Blutes gütlich taten. Meine Wut richtete sich gegen nichts. Ich wütete gegen eine Welt, in der ich nicht war.

Ich wütete, also war ich. Die Wut warf ein Licht, das einen Umriss von mir offenbarte. «Der Schatten des Einsamen ist das Einzigartige», schrieb ich, reichlich rätselhaft, in mein Tagebuch. Meine Neuronen fingen gerade an zu feuern. Am nächsten Tag, dem 31. Dezember, begann sich mein Geist von der Sepsis und der Sedierung zu erholen. Ich konnte mehr als nur ein paar Sekunden am Stück denken. Mein erster ausgiebiger Gedanke galt der Einzigartigkeit. Niemand hatte sich jemals so wie ich durchs Leben bewegt und genau die gleichen Entscheidungen getroffen.«
Die Werbetafeln der Krankenhäuser an den US-Highways vermitteln nur positive Botschaften – nichts von den Problemen – auch nicht, dass wir ein Recht haben auf Gesundheitsversorgung. Empfehlenswert zum Gesundheitssystem USA.
khw


Timothy Snyder: DIE AMERIKANISCHE KRANKHEIT
Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital

C H Beck PAPERBACK - München 2020
158 Seiten – 12,00 EUR