22.07.2020
Aenne Biermann - Fotografin

Die Fotografin wurde als drittes Kind Anna Sibylla Sternefeld einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren. 1920 heiratete sie Herbert Biermann, einen Sohn des jüdischen Kaufhausbesitzers Max Biermann (1856-1922) , zog zu ihm nach Gera. Das Paar hatte zwei Kinder. Anfang der 1920er Jahre kam sie als Autodidaktin zur Fotografie. Zunächst fotografierte sie ihre Kinder, dann Pflanzen und die Dinge des Alltags, darunter auch das Klavier im Haus. Der Geraer Geologe Rudolf Hundt war der, der sie für einem Fotoauftrag engagierte. Von seinen gesammelten Steinen sollte sie detailgetreue Fotos aufnehmen. In den nächsten Jahren wird ihre fotografische Technik immer professioneller, wobei sie sich des »Neuen Sehens« und der »Neuen Sachlichkeit« verpflichtete.

Im Sommer 2019 zeigte die Pinakothek der Moderne in München die Ausstellung »Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen« die vom Museum Folkwang in Essen im Frühjahr 2020 übernommen wurde. Die Ausstellung verdankt einem Text der Fotografin, der 1930 in der Zeitschrift »Thüringen - eine Monatsschrift für alte und neue Kultur« veröffentlicht wurde. Die Autorin fand in ihrem Beitrag eine philosophische Formel, die jene Sehweise vorwegnahm, die Hannah Ahrendt dreißig Jahre später in ihrem Hauptwerk »Vita activa oder Vom tätigen Leben« ausformulierte. Die Veröffentlichung in der Thüringischen Zeitung ist Aenne Biermanns einziger Essay, der belegbar ist. Die Fotografin setzt sich mit der »photographischen Darstellung im Allgemeinen« und mit dem »photographischen Unterricht im Besonderen« auseinander. Zehn Jahre zuvor war im Thüringischen Weimar das Bauhaus gegründet worden. Es wurde auf Zeit - bis die Nazis das Bauhaus verboten - ein Ort der künstlerischen und handwerklichen Praxis, eine Stätte der Reform des Unterrichtens. Weimar war nur fünfzig Kilometer von Gera entfernt, wo die Fotografin lebte und arbeitete. Im Aenne Biermann Katalog heißt es: »Die Künstlerinnen und Künstler, Gestalterinnen und Gestalter am Bauhaus wollten den Dingen eine neue Schlichtheit geben. Sie reflektierten dabei auch das Verhältnis des Menschen zu ihnen. Das Jahrzehnt der 1920er-Jahre ist nicht nur jene vielbeschworene »Goldene Ära«, sondern wird auch durch das Neue Sehen und die Neue Sachlichkeit geprägt, die ebenfalls die Dinglichkeit in den Fokus rücken. Nach den erschütternden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges war es insgesamt eine Zeit der Neuorientierung, die dem Pathos der Expressionisten eine versachlichte Weitsicht folgen ließ. Aenne Biermann wird vom Bauhaus gewusst haben. Sie teilte dessen experimentelle Sichtweise. So verwundern die Parallelen nicht, die zwischen ihrer fotografischen Handschrift und den Stilmitteln des Bauhauses auffallen: schräge Perspektiven, doppelte Belichtungen, enge Ausschnitte, elementare Reduktionen, irritierende Kombinationen und signifikante Multiplikationen. Aenne Biermann denkt fotografisch in Bildern, das erkennt man auch an einem der feingliedrigsten Motive in ihrem Œuvre, dem aus vier horizontalen Bildfeldern bestehenden Blick aus ihrem Atelierfenster.«

Erste Aufnahmen von Aenne Biermann erscheinen ab 1927 in Magazinen, fotografischer Ratgeberliteratur und in Amateurzeitungen, illustriert wissenschaftliche Publikationen und literarische Arbeiten. Ihre umfangreichen Veröffentlichung zeigen, auch die Ausstellungen des Deutschen Werkbundes »Film und Foto« 1929, zeigen, dass sie in einem Spannungsverhältnis zwischen Amateur- und Avantgardefotografie steht.

Aenne Biermann entwickelte neue Perspektiven bei Architekturfotos, Landschaftsfotos, porträtiert Menschen, experimentiert mit Mehrfachbelichtungen und Spiegelungen. Zwischen 1929 und 1931 erweiterte sie ihr fotografisches Spektrum die Aufnahmen von Boulevards in Paris und ihre Aktaufnahmen mit starken Lichtkontrasten und extremen Bildschnitten wirken heute noch modern.

Die Idee zur vorliegenden Buchpublikation entstand im Zuge der Kooperation der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne als einem Bestandteil der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen mit Sitz in München und dem Museum Folkwang, Essen. In beiden Sammlungen ist Aenne Biermann mit Arbeiten vertreten,. Ute Eskildsen, vormalige Leiterin der Fotografischen Sammlung am Museum Folkwang, richtete 1987 die erste umfassende Retrospektive zu Aenne Biermann aus, an der auch Ann und Jürgen Wilde mit Leihgaben beteiligt waren. Sie bewirkte damit die Wiederentdeckung der Fotografin und verschaffte ihr durch umfangreiche Erwerbungen eine feste Position in der Sammlung des Hauses. Seither haben sich viele andere Institutionen und Personen engagiert, das Leben und Werk von Aenne Biermann zu erforschen und sichtbar werden zu lassen.

Die Fotografin Aenne Biermann starb mit 34 Jahren im Januar 1933 - wenige Tage vor der »Machtergreifung der Nationalsozialisten« an einem Leberleiden. Die nationalsozialistische Verfolgung und Enteignung ihrer Angehörigen hat sie nicht mehr miterlebt. Ihr Mann und die Kinder konnten nach Palästina emigrieren. Das Archiv mit etwa 3000 Negativen wurde in Triest beschlagnahmt, nach Deutschland zurückgeschickt, ist seit dieser Zeit größtenteils verschollen.
khw


Aenne Biermann - Fotografin
Herausgeben von Simone Förster und Thomas Seelig
Verlag Scheidegger & Spieß AG, Zürich 2020

184 Seiten – 68 farbige und 35 sw-Fotos – 38.00 EUR