19.06.2020
Volker Ulrich: ACHT TAGE IM MAI – Die letzte Woche des Dritten Reiches

Der Historiker und Publizist Volker Ulrich wurde 1943 in Celle geboren, studierte Geschichte, Literaturwissenschaft,
Philosophie und Pädagogik an der Universität in Hamburg, schloss mit dem Ersten Staatsexamen ab. Er war Assistent von Egmont Zechlin, der im November 1933 das »Bekenntnis deutschest Professoren zu Adolf Hitler«, auch Mitglied der NSDAP und SA war. Trotzdem konnte er nach 1945, da er Kontakt zur Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« nachweisen konnte, auch privat mit Gegnern der NS-Regimes - Arvid und Mildred Harnack - bekannt war, als unbelastet eingestuft, 1947 den Ruf der Hamburger Universität erhielt, Ordinarius für Mittler und Neuere Geschichte wurde. Ulrich arbeitete nach seiner Promovierung mit der Arbeit über die Hamburger Arbeiterbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts in Hamburg Süden als Studienrat. Von 1990 bis 2009 leitete er bei der Wochenzeitung »Die ZEIT« das Resort »Politisches Buch«, 2008 verlieh ihm die »Friedrich-Schiller-Universität-Jena« einen Ehrendoktertitel.

Die letzten Tage des »Dritten Reichs« das mit der bedingungslosen Kapitulation in der Nacht vom 7. Mai 1945 im Hauptquartier der Engländer, Amerikaner und Franzosen, am 9. Mai um 0:16 in Berlin - Karlshorst am Sitz der Roten Armee durch Marschall Georgi Konstantinowitsch Schukow endete. Der Krieg von Hitler Deutschland war beendet, der Hitler Nachfolger Großadmiral Karl Dönitz, ein williger Gefolgsmann Hitlers, regierte von der Marineschule Mürwik in Flensburg das »Deutsche Rumpfreich« in Flensburg. Erst die Sowjets konnten mit Druck am 23. Mai 1945 der gespenstischen Regierung ein Ende bereiten.

Für die Schilderung der letzten Woche des »Dritten Reiches« sind Tagebücher, Briefe und Erinnerungen von Zeitzeugen, wobei vor allem die Tagebücher, für den Autor eine unverzichtbare Quelle sind.

Mit Datum 1. Mai 1945 bis 8.Mai 1945 zeichnet der Autor die vergangenen Geschichten in Geschichten nach. Auf Anordnung von Dönitz wird am 6. Mai 1945 auf dem Regierungsgelände seiner letzten NS-Regierung noch ein Standgerichtsurteil vollzogen. Dazu der Text aus meinem Dokumentarfilm: »Karl Dönitz - Preuße meine Pflicht getan«: U-Boot Offizier in Kiel Hans-Günther Hattendorf: Tja, das ist nun etwas schwierig zu sagen, weil es alles bißchen durcheinanderging. Wie gesagt, ich sagte schon, wir hatten also unseren Proviant schon größtenteils übernommen, wir haben uns erst mal sattgegessen. Und unser Kommandant hat sich bei unserem künftigen Flotillenchef abgemeldet. Es hieß, daß wir in Gefangenschaft gehen sollten, wenn der Engländer käme, hat unsere gesamte Besatzung abgemeldet und dann hat sich jeder vielleicht beginnend ab 15,16,17 Uhr irgendwie auf dem Wege nach Hause gemacht.

Kommentar: Anders ergeht es dem Kapitänleutnant Asmus Jepsen, Kommandant des Dönitz’schen Eisenbahnzuges, mit Geheimdokumenten und Lebensmitteln von Potsdam nach Flensburg unterwegs. Am 3. Mai fällt im schleswig-holsteinischen Sörup die Lokomotive aus. Jepsen erfährt von der nächsten Dienststelle, daß Friedensverhandlungen begonnen haben. Der Krieg ist demnach zu Ende. Er stellt seinen Untergebenen Urlaubsscheine aus, läßt die Akten verbrennen und begibt sich zu seiner Familie ins nahe Neunkirchen.

Witwe Ingeborg Jepsen: Und am anderen Morgen, sehr früh, stand schon ein Wagen, ein Auto vor der Tür und mein Mann wurde abgeholt, nach Mürwik. Tochter Ingeborg: Du bist dann mit dem Fahrrad hinterhergefahren. Witwe Jepsen: Ich bin dann mit dem Fahrrad hinterhergefahren. Tochter Ingeborg: Weil das ganze sehr unheimlich war. Witwe Jepsen: Weil ich ja nicht wusste, was nun geschehen würde, und ich hab mich da dann rumgehört und habe dann erführen, daß man ihn festgenommen hat. Und weiter wusste ich dann nichts, bis ich dann die Nachricht bekam, dass man meinen Mann am 6. Mai abends um halb neun erschossen hatte. Tochter Ingeborg: Als mein Vater erschossen wurde, damals, 1945, war ich zwölf Jahre alt, und heute, nach vierzig Jahren, bin ich erst dazu in der Lage, vielleicht den Brief den letzten Brief, den Abschiedsbrief meines Vaters vorzulesen. - Und ich finde, dieser Brief sagt eigentlich alles, erklärt alles und für mich ist das ein Dokument der Liebe, und ich versuch das mal, den Brief vorzulesen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, vielleicht muss ich heute noch, nach 4o Jahren, dabei weinen. Aber ich versuch es mal: Geliebte Frau, geliebte Kinder! Soeben wurde mir eröffnet, daß ich heute um 2o Uhr erschossen werde.. Man hat meinen Worten keinen Glauben geschenkt. So sterbe ich als ein Verbrecher, für Euch und alle Angehörigen eine ewige Schande. Ich kenne Deine Absicht, Dir und den Kindern das Leben zu nehmen, ich bitte Dich, das nicht zu tun, denn in ihnen sind so gute Anlagen, dass sie sich auch in Zukunft durchschlagen. Ich bin auch überzeugt, daß man schon in nächster Zukunft mein Verhalten anders beurteilen wird. Dich, die Kinder und alle Angehörigen bitte ich um Verzeihung. Doch handelte ich in redlichster Absicht und glaubte auch, es nach Lage der Dinge so machen zu müssen. Für alle Deine Liebe danke ich Dir. Du, die Kinder und mein Vaterland waren es, für die ich stets, kämpfte, damit wir alle in einem schönen Vaterland leben könnten. Leider ist es anders geworden. Deutschland wird nichts mehr bedeuten und Ihr werdet nichts als Not und Sorgen kennen. So grüße ich Euch alle zum letzten Male, Dein Asmus und Euer Papa! - Das war’s. Mehr möchte ich nicht dazu sagen.

Kommentar: Standrechtlich erschossen am 6. Mai 1945, einen Tag nach Inkrafttreten der Teilkapitulation von Lüneburg. Asmus Jepsen wurde bis heute nicht rehabilitiert. Hitler-Nachfolger Dönitz dagegen bezog bis zu seinem Tod eine Konter-Admiral-Pension. Am 7. Mai 1945 wird von Generaloberst Jodl in Reims die Gesamtkapitulation unterzeichnet. Am 9. Mai müssen die Generäle Keitel und Stumpf, sowie der General-Admiral von Friedeburg in Berlin-Karlshorst vor dem sowjetischen Marschall Schukow die Unterschrift wiederholen. Der Text beinhaltet die bedingungslose Übergabe aller unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte zuWasser, zu Lande und in der Luft. Trotz dieser eindeutigen Bestimmungen kann Dönitz, mit Billigung der Engländer, sein Restreich noch bis zum 23. Mai, von Flensburg aus regieren. Sein "Kabinett" setzt sich aus denselben Fachleuten zusammen, die schon Hitler mit ihrem Sachwissen gedient haben. SS- Brigadeführer Otto Ohlendorf hält die Verbindung zum Reichsfuhrer-SS Heinrich Himmler, der bis zuletzt von Plön aus mit seinen Mordkommandos die Bevölkerung terrorisiert. Wochenschau: „Flensburg; Finale des letzten Aktes. Großadmiral Dönitz und sein Stab haben nun die Aufgaben erfüllt, die ihm von der alliierten Militärregierung gestellt wurden“.

Kommentar: 23. Mai 1945. Verhaftung der sog. Regierung Dönitz. Der einleitende Text zu dieser englischen Wochenschau macht deutlich, dass in der Tat eine Kollaboration zwischen den Engländern und Dönitz bestanden hat. Dabei ging es keineswegs nur um die Rettung von Ostflüchtlingen. Dönitz selbst verweist auf ein Telegramm, das Winston Churchill am 12. Mai 1945 an den amerikanischen Präsidenten Truman sandte. Darin heißt es, bei einem Rückzug der Amerikaner aus Deutschland würde es den Russen freistehen, in sehr kurzer Zeit bis zur Nordsee und an den Atlantik vorzustoßen.

Die Spekulation des Großadmirals auf ein militärisches Zusammenspiel gegen die Sowjetunion ist also nicht völlig aus der Luft gegriffen. Bis weit nach Kriegsende haben die Engländer deutsche Marineeinheiten in der alten Befehlsstruktur erhalten, und zwar als Minenräumkommandos. Im Herbst 1946 sind das immerhin noch 27.ooo Mann auf 84o Fahrzeugen. Noch später wird daraus die neue Bundesmarine. Erst auf Einspruch der Sowjetunion, die am 17. Mai '45 der „Alliierten Kontrollkommission“ in Flensburg wird die Zusammenarbeit mit der „Regierung Dönitz“ beendet. Am 23. Mai werden Dönitz und seine Kabinettsmitglieder verhaftet, darunter SS-Führer Ohlendorff, der Produktionsminister Albert Speer und Generalobst Jodl. Der Großadmiral hat also noch gut 2 Wochen von Bord des Dampfers „Patria“ ein Reich Kommandiert: auf der Grundlage des Treueeids, den die Soldaten auf Adolf Hitler geschworen hatte und den Dönitz auch auf sich bezog.

Ob man auf wie auf Seite 247 die inhaftierten »NS-Elite vor dem Palace-Hotel in Bad Mondorf« veröffentlichten musste - waren sie nicht die Verbrecher, die Deutschland ins Unglück stürzten - ist eine Frage der Haltung. Die Flucht aus der Geschichte im Westen hat ihre Ursache, dass die Schule die NS-Jahre ausgeklammerte.
Khw


Volker Ulrich: ACHT TAGE IM MAI
Die letzte Woche des Dritten Reiches

C.H. Beck Verlag, München 2020
317 Seiten - zahlreiche sw-Fotos - 24,00 EUR