18.06.2020
Gérard Raulet: DAS BEFRISTETE DASEIN DER GEBILDETEN
Benjamin und die französische Intelligenz

Der Autor Gérard Raulet, geboren am 9. August 1949 in Sceaux, Hauts-de-Seine, studierte an der Saint-Cloud École Normale Superiere, qualfierte sich 1973 als Deutschlehrer und 1981 als Doktor der Philosophie, später als Professor an der Sorbonne in Paris. Raulet arbeitete über die Philosophen Karl Marx und Max Scheler.

In den Jahren 1926 und 1927 hielt Benjamin sich in Paris auf. Mit Franz Hessel beteiligte er sich an der Übersetzung der Werke von Marcel Proust, darunter besonders an den Titel »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Breits im Jahr 1924 beginnt sein Interesse für den Kommunismus, somit fährt er im Winter 1926/27 nach Moskau. Hier trifft Benjamin seine Freundin, die lettische Regisseurin und Schauspielerin Asja Lacis. In seinem »Moskauer Tagebuch« und der Aufsatz »Moskau«, der in der Zeitschrift »Die Kreatur« veröffentlicht zeigt er seine Sympathie für die kommunistische Bewegung, bleibt aber Zeit seines Lebens wie er es nannte, ein »linker Außenseiter«.

1930 wird die Ehe geschieden. Seine Frau, eine prominente Journalistin, sie arbeitet für den Rundfunk und dem Ullstein-Verlag, sicherte mit ihrem Honorar jahrelang den unterhalt der Familie. Trotz eines erbitternden Scheidungskriegs werden und bleiben sie bis zum Lebensende Benjamins Freunde. Das dokumentiert ihre noch unveröffentlichte Korrespondenz. Gemeinsam hat Benjamin mit Bertolt Brecht publizistische Pläne, arbeitete auch für den Rundfunk. Er begann auch mit der Arbeit an einem Buch über seine Kindheit und Jugend, dass zunächst den Titel »Berliner Chronik« hieß, dann in »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« umbenannt wurde. Zu seinen Lebzeiten werden nur wenige Kapitel daraus in der »Frankfurter Zeitung« veröffentlicht. Die Sommer 1932 und 1933 ist er auf der Baleareninsel Ibiza. Im Sommer 1933 verliebte er sich auf Bealareninsel in die niederländische Malerin Anna Maria Blaupot ten Cate, und schreibt für sie »Agesilaus Santander«. In den Sommermonaten schreibt er die Reiseerzählungen »Die Fahrt der Mascotte«, »Das Taschentuch«, »Der Reiseabend«, »Die Kaktushecke« und »Spanien 1932«. Es ist die Machtübernahme der Nationalsozialisten die Benjamin zwingt im September 1933 nach Paris ins Exil zu gehen. Hier unterstützt Hannah Arendt den fast mittellosen Benjamin. Das zeigt der überlieferte Briefwechsel der beiden. Walter Benjamin erhielt Zuwendungen von seiner Ex-Frau, der Schwester Dora Benjamin, sie ist Sozialforscherin und Mitarbeitergehalt von Max Horkheimer geleitete Institut für Sozialforschung, das ihm das inzwischen nach New York emigrierte. In seinen Pariser Exiljahren arbeitete Benjamin vor allem an dem »Passagen-Werk«, das ein Fragment bleibt.

In seiner Einleitung schreibt Gérard Raulet: »Der Aufsatz »Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers«, den Benjamin 1934 auf Ibiza konzipierte und den er für die Zeitschrift des emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung bestimmte, ist alles andere als eine Gelegenheitsschrift, sondern vielmehr der Niederschlag einer fast ununterbrochenen Beschäftigung mit der französischen Literatur und Intelligenz. Einen ersten Höhepunkt erreichte diese während des längeren Pariser Aufenthaltes (ein halbes Jahr) im Jahre 1926, der auch mit dem Beginn der regelmäßigen feuilletonistischen Mitarbeit an Willy Haas’ Literarischer Welt und an der Frankfurter Zeitung zusammenfiel. Es ist festgestellt worden, dass die Zahl der Texte, die sich mit der französischen Literatur befassen, sich dann Anfang der dreißiger Jahre verringerte. Dazu mag eine Reihe von Gründen beigetragen haben: der Verkauf der Literarischen Welt durch Willy Haas, der Kurswechsel der
Frankfurter Zeitung nach dem Ende der »Kracauer-Ära«, wohl aber auch Benjamins vorläufig bessere finanzielle Situation, zumindest solange er zur »Jugendstunde« des Berliner Rundfunks regelmäßige Beiträge liefern konnte. Auf den ersten Blick mag es also den Anschein haben, dass die Kurve von Benjamins Beschäftigung mit Frankreich den Wechselfällen seiner persönlichen Lage folgt, fällt doch deren Gipfel um 1926 mit dem Scheitern seines Habilitationsvorhabens und mit seiner Hinwendung zur publizistischen Tätigkeit zusammen. Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedoch, dass das Interesse für das französische geistige Leben früher einsetzte und nach 1933 keineswegs verschwindet: Es nimmt andere, selbstsicherere Formen an, die mit der früheren Zuneigung für Autoren und Bewegungen, die Benjamin vorher als kongenial empfunden hatte, abrechnen aber nicht unbedingt brechen. Selbst - ja vor allem - der Surrealismus entgeht dieser Generalabrechnung nicht. Was sich ändert, ist die Natur der Texte: Anstelle von Rezensionen, Kritiken, Berichten, denen er freilich immer seine besondere Prägung gegeben hatte, systematisiert Benjamin mit neuen kritischen Maßstäben seine langjährige Erfahrung mit dem französischen literarischen Felde Auf den Aufsatz von 1934 folgt eine Reihe von Briefen an Max Horkheimer, die sich vornehmen, ein Gesamtbild der französischen Intelligenz zu entwerfen. Benjamin liest immer noch ungemein viel, er signalisiert ab und zu auch seine Bereitschaft, dieses oder jenes Buch zu rezensieren, oder gar zu übersetzen, aber die Lektüre des nunmehr edierten gesamten Briefwechsels vermittelt den deutlichen Eindruck, dass der Schwerpunkt seines Schreibens nicht mehr in solchen Gelegenheitsarbeiten bzw. Vermittlertätigkeiten lag - wiewohl seine materiellen Lebensbedingungen sich wieder verschlechtert haben. Diesen zum Trotz hat er nun den Punkt erreicht, an dem der Kritiker die Rolle oder die Maske des bloßen Rezensenten ablegen und als selbständiger Autor sich behaupten kann, oder zumindest will. Nachdem das Exil in Paris sich eher als unabwendbare Notlösung denn als Wahl erwiesen hat, ist freilich das Verhältnis zu Frankreich nicht mehr das, was es früher gewesen war, und es ermöglicht eine äußerst kritische Rückbesinnung auf die Wahrnehmung der französischen Szene.«

Von 1937 bis 1939 war Benjamin Mitglied des von Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois gegründeten College de Sociologie sowie Batailles Geheimgesellschaft Acephale, obgleich er den Bestrebungen des College, den Faschismus mit seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen, kritisch gegenüberstand. Ein geplanter Vortrag Benjamins über die Mode konnte wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr stattfinden. Walter Benjamin wurde für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen im Camps des travailleurs du Clos Saint-Joseph in Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles interniert. Erst im November 1939 kommt er aus der Haft wieder frei, schreibt seinen letzten Text, die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Walter Benjamin flüchtete nach Lourdes, von dort reist er weiter nach Marseille, bevor er im September 1940 mit Hilfe von Lisa Fittko den Versuch unternahm, über Spanien nach Portugal zu gelangen, um aus Lissabon mit seinem US-Visum in New York einzureisen. Im spanischen Grenzort Portbou, trotz seines erfolgreichen Grenzübertritts aus Frankreich befürchtet Walter Benjamin seine Auslieferung durch Francos Guardia Civil an die Gestapo in Frankreich. In der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 nimmt sich Walter Benjam im Hotel »Francia de Portbou« das Leben. Heute erinnert an den großen Deutschen die begehbare Landschaftsskulptur »Passagen« des israelitischen Künstlers Dani Karavan an der felsigen Abbruchkannte zum Mittelmeer.

Dem Buch von Gérard Raulet fehlen neben persönlichen Hinweisen seiner literarischen Zeit in Frankreich jegliche Erinnerung an den Philosophen Walter Benjamin.
khw


Gérard Raulet: DAS BEFRISTETE DASEIN DER GEBILDETEN
Benjamin und die französische Intelligenz

Konstanzer University Press Konstanz
Imprint der Wallstein Verlag GmbH. 2020
283 Seiten geb. 29,90 EUR


Friedhof von Portbou mit Hinweis auf Walter Benjamin


Das begehbare Denkmal „Passagen“
von Dani Karawan


Grab von Walter Benjamin