22.05.2020
Martin Beradt: BEIDE SEITEN EINER STRASSE – Ein Roman über ostjüdisches Leben in Berlin

Seinen Roman über das Scheunenviertel, dem Quartier der Ostenjuden in Berlin, bereits in Berlin begonnen, konnte Martin Beradt erst in seinem ersten Exil 1939 in London fortsetzen. Der Sohn eines jüdischen Lederhändlers wurde am 26. August 1881 in Magdeburg geboren, lebte ein Jahr später in Berlin. Nach seinem Abitur studierte der Autor Jura, promovierte 1906 in Freiburg im Breisgau. Bereits während seines Studiums schrieb er Essays und Erzählungen, die in literarischen Zeitungen veröffentlicht wurden. Der erste Roman »Go« erschien 1909 im Verlag. S. Fischer. Sein Essay »Der Richter«, eine kritische Studie, macht es ihm unmöglich Richter, zu werden, wurde 1911 Anwalt. Als Syndikus tätig für den »Schutzverband deutscher Schriftsteller«, war er einer der Anwälte, die sich um Heinrich Manns Urheberechtsprobleme kümmerte. Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 wurde Beradt als Jude aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Erst nach dem Tod seiner Mutter konnte er, inzwischen verheiratet mit Charlotte Aron, 1939 Deutschland ins Exil England verlassen.

In dem Roman »Beide Seiten einer Straße« nennt Martin Beradt keine Straße, wo sich das jüdische Leben, das er fesselnd in seinem Scheunenviertel beschreibt, abspielte. Trotzdem bekommt der Leser viele Informationen über die Juden aus Polen, Litauen und der Bukowina in den Schmelztiegel Berlin, die bereits vor der Jahrhundertwende einwanderten. Die Berliner Neubürger heißen Warszawski, Weiselbaum, Koplowitz, Asch, Hurwitz oder Israel. Frajim Feingold ist einer der Neubürger. Beradt schreibt über seine Ankunft: » Wirklich traf Frajim Feingold zu Beginn des Herbstes 1927, an einem wenig schönen Tag, in der deutschen Hauptstadt ein. Er kam unmittelbar aus einer Judengasse von Piaseczno und wußte genau, in welche Gasse er hier zu gehen hatte; es gab nur eine. In Amsterdam gibt es ein Viertel für Ostjuden, in New York füllen sie ganze Stadtteile, in London lange Straßenzüge. Hier, in einer Stadt von vier Millionen Einwohnern, einer der größten und bedeutendsten der Welt, waren so ausgeprägt nur wenige Gassen; die wichtigste betrat er. Dreitausend Menschen hatte sie bisher beherbergt, jetzt sollte es einer mehr sein.«

Eindrucksvoll schildert er das Straßenleben im Scheunenviertel: »Ein neuer Menschenauflauf. Mit schmutziger Hose, dreckigem Kittel, einen Riemen um den Leib, vor sich auf dem Handwagen einen Stein, kam ein hübscher Scherenschleifer an. Mit wohlgefälliger Stimme sang er in die Fenster: »Scheren, Messer, Beile, Raspeln und
Feilen - schleife, schärfe alles.« Die Frauen hatten offenbar auf ihn gelauert. Alt und Häßlich hetzte die Treppehinab und stürzte mit einem süßlichen Lächeln auf ihn zu. Jede wollte die erste sein, wahrscheinlich schien das erste hübsche Lächeln um seinen Mund frischer, das erste Wort von seinen Lippen am wenigsten verdorben. Er kramte in der Ledertasche nach einer Münze, um sie einer älteren Frau herauszugeben - sie winkte ab. Mehr oder minder umwarb ihn jede; nicht er war dankbar, beschäftigt, sie waren es, bedient zu werden.«

Der Berliner Rechtsanwalt und Schriftsteller Martin Beradt hat einen jüdischen Roman geschrieben in dessen Mittelpunkt nicht einzelne Personen stehen, sondern eine Straße als ein begrenzter Schauplatz der Handlung. - Das Viertel was, Martin Beradt liebevoll beschreibt, haben die Nationalsozialisten mit ihrem Rassenwahn zerstört. Der Roman bringt das Zerstörte wieder zurück.

Das Ehepaar Beradt emigrierte weiter von London nach New York. Hier überlebten sie durch die Einnahmen der Frau als Friseurin, da sich kein US-Verleger für Beradts Literatur interessierte. Hierzulande erschien der Roman 1965 unter dem stark veränderten Titel: »Die Straße der kleinen Ewigkeit«
khw


Martin Beradt: »BEIDE SEITEN EINER STRASSE«
Verlag das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020
319 Seiten - zahlreiche sw-Fotos - 25,00 EUR