26.08.2019
Pablo Rudich: Dazwischendasein – Jüdisches Leben zwischen Czernowitz, Wien und Montevideo

Es ist eine der zahlreichen jüdischen Familiengeschichten die durch Vertreibung, Flucht und Exil geprägt wurde. Das Ehepaar Serafine König und Wolf Rudich mussten zuerst aus der multikulturellen Stadt Czernowitz im August 1914 nach Wien fliehen. Mit dem Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich mussten wieder die Koffer gepackt werden, mit ihren zwei Söhnen wurde das südamerikanische Montevideo am Rio de La Plata zum Exil. Über Jahre war die Hauptstadt von Uruguay neue Heimat.

Seit 1978 nun lebe ich in Wien, der Geburtsstadt meines jüdischen Vaters. Zufälle interessieren mich, ohne dass ich ihnen eine konkrete Bedeutung zuordnen könnte. Ich war dreizehn Jahre alt, als ich in Wien ankam, mein Vater Alfred Rudich dreiundfünfzig. Als er 1938 erzwungenermaßen aus Wien auswandern musste, kam er als Dreizehnjähriger in meiner Geburtsstadt Montevideo an, sein Vater - Wolf Rudich - war damals dreiundfünfzig. Für meinen Vater bedeutete die Rückkehr nach Wien eine Remigration; somit zählt er zu dem kleinen Prozentsatz der ca. 120.000 geflüchteten Wiener Juden und Jüdinnen, die den Weg zurück in ihre ehemalige Heimatstadt fand. Hat er seine Geburtsstadt wirklich als Heimat empfunden? Hat er das wiedergefunden, wonach er sich nach vierzig Jahren Abwesenheit womöglich gesehnt hat? Obwohl oder gerade weil er mein Vater war (er starb siebzigjährig im Jänner 1996) sind dies Fragen, die ich niemals beantworten werde können. Was sein individuelles Gedächtnis betrifft, ist es merkwürdig, dass er seinen vier Kindern in Uruguay immer wieder beteuerte, sich vor seinem dreizehnten Lebensjahr an nichts erinnern zu können. So konnten - oder durften - wir nichts von der Kindheit unseres österreichischen Vaters in diesem für uns noch sehr weit entfernten und vollkommen fremden Land namens Austria erfahren. Wir konnten nicht ahnen, dass wir irgendwann einmal selbst in Wien landen würden und dadurch doch Verbindung zu den väterlichen, zumindest geographischen Wurzeln, herstellen würden. Dass unser Vater seine Erinnerungen verdrängte bzw. diese uns vorenthalten wollte, hat doch nichts genützt: in der Gegenwart holt uns des Vaters Vergangenheit ein. Wie aus Zufall - wieder einmal - hat jedes von uns vier
erwachsenen Kindern nun eine Wohnung im 2. Gemeindebezirk Wiens bezogen, in der sogenannten Leopoldstadt. Ein großer Teil dieses Bezirks ist seit der Anlage des ersten jüdischen Ghettos Anfang des 17. Jahrhunderts mit der Geschichte der Juden und Jüdinnen im Wiener Raum eng verbunden. So sind wir ohne eindeutige Absicht im bis 1938 jüdischstem Viertel Wiens angekommen, man könnte auch sagen beheimatet, obwohl der Vater uns nie explizit etwas von jüdischer Identität mitgegeben hat. Als mein Vater zu seinen vermeintlichen Wurzeln zurückkam, bedeutete dies für seine Kinder eine Entwurzelung von deren eigenem Geburtsland, Uruguay. Es ist sicherlich für mich und für meine Geschwister prägend gewesen, dass wir aus einer nomadischen Genealogie stammen und zwischen 1973 und 1978 dreimal das Land gewechselt haben. So wird für mich die wiederholt gestellte Frage, woher ich bin, zu welchem Land ich mich zugehörig finde, immer schwerer zu beantworten, je länger ich auf dieser Welt lebe und mir meiner eigenen Familiengeschichte bewusst werde.»

Nach Aufenthalten in Stuttgart und Barcelona ist es heute wohl endgültig Wien. Der Autor ist Fremdenführer und Historiker mit den Schwerpunkten Wien um1900, Jugendstilkultur, jüdische Geschichte in Mitteleuropa und Architektur.
Empfehlenswert.
khw


Pablo Rudich: Dazwischendasein
Jüdiches Leben zwischen Czernowitz, Wien und Montevideo

Mandelbaum Verlag Wien – Berlin 2019
142 Seiten - englische Broschur - 20,00 EUR