09.05.2019
Oskar Negt: ERFAHRUNGSSPURENEINE AUTOBIOGRAFISCHE DENKREISE

Der Sozialphilosoph Oskar Reinhard Negt wurde am 1. August 1934 auf Gut Kapkeim, nahe Königsberg, als jüngstes von sieben Kindern in Ostpreußen geboren. Er stammt aus einer Familie von Kleinbauern und Arbeitern. Im Januar 1945 floh Negt mit zwei Schwestern über Königsberg, Gotenhafen nach Dänemark. Hier lebte er zweieinhalb Jahre mit seinen Schwestern, getrennt von den Eltern in einem Flüchtlingslager, ehe Niedersachsen seine neue Heimat wird.

Nach seinem Abitur beginnt Negt zunächst ein Jurastudium in Göttingen, wechselt dann an die Universität in Frankfurt/Main wo er bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Soziologie und Philosophie studierte. 1962 promoviert er bei Adorno über den «Gegensatz von Positivismus und Dialektik bei Georg Wilhelm Hegel und Auguste Comte». Von 1962 bis 1970 ist er Assistent von Jürgen Habermas an den Universitäten in Heidelberg und Frankfurt am Main. Auf den Lehrstuhl für Soziologie der Technischen Universität Hannover 1970 - heute Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität-Hannover - lehrte er bis zu seiner Emeritierung 2002.

Politisch engagiert er sich 1956 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), ist ab 1968 einer der Wortführer der außerparlamentarischen Opposition und später des Offenbacher Sozialistischen Büros.

Seit den frühen 1960er Jahren ist Negt mit den Gewerkschaften verbunden. Ab 1972 beginnt eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Alexander Kluge. Über die Jahre entstehen bis 2010 rund 50 über die «Development Company for Television Program mbH» (dctp) im Privatfernsehen der Bundesrepublik ausgestrahlte Fernsehdialoge mit Kluge.

Im Bundeswahljahr 1998 ergreift Negt Partei für den SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder und geht in seinen Beraterstab. Es entstand die Schrift «Warum SPD? – Sieben Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel». 2013 unterzeichnet er einen Aufruf an SPD-Mitglieder, den Vertrag der Großen Koalition abzulehnen.

Als Wissenschaftler verbindet Oskar Negt die Soziologie mit der Philosophie.

Nach dem Band «Überlebensglück», 2016 veröffentlicht, nun die Fortsetzung im Band «Erfahrungsspuren».

Oskar Negt schreibt im Vorwort: «Dieser zweite Teil meiner autobiographischen Spurensuche trägt - wie stark die Verästelungen auch auf die Vergangenheit bezogen sein mögen - eine zentrale Botschaft für die Gegenwart und für die Zukunft: Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralische Verkrüppelung ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen hat, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach aussichtlos werden lässt.

Das Erstarken der Rechtsradikalen liefert im Beweis, dass die neoliberal inszenierte Rücknahme des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit nicht ohne Folgen bleibt. Sie bewirkt soziale Pathologien und Instabilität, die letztlich in der Delegitimierung des Systems enden. Dabei verstärken sich nationale und internationale Phänomene: Globalisierung und Digitalisierung, Migration und Ausgrenzung, rechter Autokratismus und Populismus der Trump, Erdogan, Orbán und Le Pen. Der Angstrohstoff, der Bearbeitung erfordert, hat ein furchterregendes Gewicht bekommen. Dieser zweite Teil der Autobiographie steht im Zeichen einer inneren Zerrissenheit der Gesellschaft, wie es sie in der durch sozialstaatliche Kompromisse geprägten Nachkriegszeit nicht gegeben hat.

Die hier vorgelegten Texte haben autobiographische Motive, aber sie folgen nicht den Maßstäben einer Autobiographie. Ich will damit bekennen, dass ich die Erwartung an Vollständigkeit und schließende Übergänge in diesem Lebensabschnitt der Vita activa nur in wenigen Bezügen erfüllen kann.»
Eine lesenswerte autobiografische Spurensuche.
khw


Oskar Negt: ERFAHRUNGSSPUREN
EINE AUTOBIOGRAFISSCHE DENKREISE

Steidl Verlag, Göttingen 2019
381 Seiten - zahlreiche Fotos 28,00 EUR

Im Steidl erscheint die Werksausgabe Oskar Negt in 20 Bänden