06.04.2019
Frank Biess: REPUBLIK DER ANGST
EINE ANDERE GESCHICHTE DER BUNDESREPUBLIK

Der Autor Frank Biess, Jahrgang 1966, ist derzeit Professor für Europäische Geschichte an der University of California in San Diego. Vor seiner Berufung nach San Diego studierte er in Marburg, Tübingen und St. Louis, hat an der Brown University in Providence, Rhode Island, promoviert. Biess forscht zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, vor allem hier nach 1945.

Im Vorwort schreibt Biess: «Die geplante Nato-Nachrüstung löste die bei weitem umfangreichste Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik aus, die Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre. Meine politische Sozialisation verlief über diese Bewegung und die Angst vor dem atomaren Holocaust, wie es damals in bezeichnender Verbindung von Vergangenheit und Zukunft hieß. Dabei war ich nur am Rande der Bewegung aktiv. Mein Jugendzimmer hatte ich zur atomwaffenfreien Zone erklärt, ein Aufkleber mit einer weißen Friedenstaube auf blauem Grund schmückte die Tür, und die eigentlich unzulässige, weil auf politischen anstatt Gewissensgründen basierende Wehrdienstverweigerung hatte ich schon im Kopf. Meine erste Demonstration war die Menschenkette, die im Oktober 1983 das Nato-Hauptquartier in Stuttgart mit den Wiley-Barracks in Neu-Ulm verband. Wie ich später erfuhr, war meine heutige Frau etwas weiter östlich positioniert. Wir hielten also indirekt Händchen, bevor wir uns erst knapp zwei Jahrzehnte später in Südkalifornien trafen. Das Absingen von «We Shall Overcome» mit leicht schwäbischem Akzent empfand ich bei meiner Unmusikalität als etwas peinlich, dann aber doch bewegend. Denn so konnte man sich als Teil einer grenzübergreifenden Bewegung sehen - «transnational», wie man das heute nennt.

Die Nachrüstungsdebatte und die Friedensbewegung wurden für mich eine Obsession. Ich diskutierte den jeweiligen strategischen Nutzen von land- und seegestützten Nuklearwaffen, argumentierte vehement für die Einbeziehung der französischen und britischen Atomraketen und verteidigte den von Paul Nitze ausgehandelten Waldspaziergangkompromiss. Meine Französischkenntnisse leiden noch heute darunter, dass ich den Großteil der Französischstunden mit einem Mitschüler, dessen Vater Berufssoldat war und der später selbst Zeitsoldat wurde, über die Philosophie der Abschreckung diskutierte. In Leonid Breschnew und Juri Andropow sah ich nicht unbedingt «Friedensengel», wie von der DKP behauptet, aber überzeugt war ich schon, dass die eigentlichen Aggressoren in den USA saßen, insbesondere Ronald Reagan mit seinem Kampf gegen das evil empire („Reich des Bösen“ so bezeichnete Ronald Regan die Sowjetunion) und dem auch im Nachhinein noch ausgesprochen dummen Witz über die angeblich unmittelbar bevorstehende Bombardierung der Sowjetunion während einer Mikrophonprobe. Mein Amerika-Bild wurde erst etwas komplexer, als ich ein Jahr später für einen vierwöchigen Austausch in den Mittleren Westen kam und bei einer Familie von überzeugten Demokraten landete. Damals erkannte ich das Reisen als das beste Mittel gegen nationale Klischees.

Der autobiographische Ursprung dieses Buches liegt im Versuch, diese Gefühlslage eines 17-Jährigen im späten Kalten Krieg zu verstehen. Warum nahm Angst in der politischen Sozialisation junger Leute in den 1980er Jahren solch einen Stellenwert ein? Diese eher autobiographische Frage überschnitt sich mit einem wissenschaftlichen Interesse an der neu aufkommenden Geschichte der Emotionen. Schließlich bestätigte meine persönliche Erfahrung auch die zunehmenden Zweifel an der verbreiteten Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Wie erfolgreich war die Geschichte des alten Westdeutschland wirklich, wenn Millionen von Menschen geradezu apokalyptische Ängste erfuhren und diese in Massendemonstrationen auch äußerten? Und was bedeutete es, dass solche Angstkrisen die gesamte Geschichte der Bundesrepublik durchzogen? Zeigte sich hier nicht eine eigentümliche Spannung zwischen der von den Historikern und Historikerinnen konstruierten optimistischen Erzählung der Bundesrepublik und dem Pessimismus der Zeitgenossen?»

Noch immer ist die Frage Krieg oder Frieden nach der Aufkündigung des INF-Vertrag von 1987 durch den US-Präsidenten Ronald Trump schwebend über die Bundesrepublik Deutschland. Besorgniserregend ist auch ein mehr von der BRD für die Nato auszugeben – das auch wird zur Angst der Bundesrepublik.
khw


Frank Biess: REPUBLIK DER ANGST
EINE ANDERE GESCHCIHTE DER BUNDESREPUBLIK

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019
613 Seiten - 22,00 EUR