15.10.2018
Robert Gerwarth: DIE GRÖSSTE ALLER REVOLUTIONEN
November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit

Der Autor Robert Gerwarth, am 12. Februar 1976 in Berlin geboren, ist Historiker, lehrt an der irischen University College Dublin, leitet das «Zentrum für Kriegsstudien».

Robert Gerwarth schreibt, dass sich erst am 10. November 1918 Kaiser Wilhelm ins Exil in die Niederlande bewegte. Er schreibt: «In den frühen Morgenstunden des 10. November 1918 passierte ein kleiner Autokonvoi nahe der Gemeinde Eijsden die belgisch-niederländische Grenze. In einem der Wagen saß Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser und König von Preußen.

Tags zuvor hatte der deutsche Reichskanzler Max von Baden ohne Einwilligung des Monarchen dessen Abdankung verkündet. Nur wenige Stunden später hatte Philipp Scheidemann, einer der Vorsitzenden der Sozialdemokraten, von einem Balkon des Berliner Reichstagsgebäudes die Republik ausgerufen. Noch am selben Abend, kaum dass die Königin der Niederlande und das niederländische Parlament dem deutschen Kaiser politisches Asyl zugesagt hatten, verließ der königliche Hofzug das Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa. Wilhelm fürchtete, dass er das gleiche Schicksal erleiden könnte wie sein Verwandter, Zar Nikolaus II. von Russland, der kaum vier Monate zuvor mit seiner gesamten Familie von den Bolschewiki brutal ermordet worden war. Dass es zu diesem Verbrechen gekommen war, dürfte die Entscheidung der niederländischen Regierung beeinflusst haben. In der Hoffnung, unerkannt zu entkommen, stieg Wilhelm kurz vor der niederländischen Grenze vom grün angestrichenen Hofzug in ein Automobil um, von dem zuvor die königlichen Hoheitszeichen entfernt worden waren. Doch die Bevölkerung erkannte den Kaiser trotz dieser Vorkehrungen und beschimpfte ihn wütend als Kriegsverbrecher. Es gelang ihm dennoch, seine Reise in die Niederlande fortzusetzen. Zwei Wochen später, am 28. November 1918, erklärte er offiziell »für alle Zukunft« seinen Verzicht auf den preußischen Thron und die deutsche Kaiserkrone. Zu diesem Zeitpunkt dürfte das nur noch wenige Deutsche interessiert haben.”

Nur die Republik wurde zweimal ausgerufen. Vom Balkon des Berliner Schlosses rief Karl Liebknecht am 9. November die «freie sozialistische Republik aus.» Sein Text ist erhalten, der von Scheidemann leider nicht. - Ein Fazit von heute ist, dass es die November-Revolution 1918 gab - ein Kaiser ins Exil ging, dass es zu großen Veränderungen nicht kam. Abgesehen vom Frauenwahlrecht, das am 12. November 1918 über das damalige revolutionäre Deutschland.

Gerwarth schreibt zum Ende des Buches: «Dass die Demokraten mit diesen höchst bemerkenswerten Erfolgen nicht offensiver umgingen, mag vor allem an den unrealistischen Erwartungen gelegen haben, die viele Deutsche seit dem letzten Kriegsjahr im Hinblick auf die Friedensordnung gehegt hatten. Nachdem in der ersten Jahreshälfte 1918 ein deutscher Sieg noch zum Greifen nahe schien, hatten sie nach der militärischen Wende in der zweiten Hälfte des Jahres doch zumindest noch einen Kompromissfrieden erwartet. Hinzu kam, dass sie sich von der neuen politischen Ordnung Lösungen für die Probleme erhofften, die die Republik 1918 vom Kaiserreich geerbt hatte. Noch immer prallten in der tief gespaltenen deutschen Nachkriegsgesellschaft miteinander kaum zu vereinbarende Ideale aufeinander. Während die Republik von rechts als »undeutsche«, von den Alliierten aufgezwungene Staatsform abgelehnt wurde, trauerten Teile der Linken - nach wie vor in der Minderheit - der im Herbst des 1918 «verpassten Gelegenheit« nach, eine »wahre Revolution« durchzusetzen.»

Der Autor endet mit seinem Blick auf Weimar: «Selbst der linke SPD-Kritiker Tucholsky, der in den 1920er Jahren immer wieder die mangelnde Demokratisierung von Armee und Justiz anprangerte, hätte wohl schwer bestreiten können, dass die »kleine Dicke« aus der Perspektive eines Demokraten im Vergleich zu den politischen Verhältnissen im Kaiserreich klare Vorzüge zu bieten hatte. Mit Recht ist immer wieder auf die vielen Schwächen der Demokratie verwiesen worden, die sich aber erst aus der Rückschau als solche erwiesen. Dennoch sind sie im retrospektiven Wissen um das Scheitern Weimars 1933 ins Zentrum der historischen Bewertung der ersten deutschen Demokratie gerückt. Dabei ist ein sehr einseitiges Bild von Weimar als »Totgeburt« entstanden, in dem die Empfindungen der Zeitgenossen nur bedingt widergespiegelt sind. Am Ende des Jahres 1923 war das Scheitern der Demokratie weit unwahrscheinlicher als ihre Konsolidierung. Die Zukunft der Weimarer Republik war zu diesem Zeitpunkt vollkommen unvorhersehbar.» Empfehlenswert.
Khw


Robert Gerwarth: DIE GÖSSTE ALLER REVOLUTIONEN
November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit

Siedler Verlag in der Verlagsgruppe Random House München, 2018
384 Seiten - zahlreich sw-Fotos - 28,00 EUR