28.06.2018
Kommen. Gehen. Bleiben. – ANDREJ HOLM IM GESPRÄCH - mit Samuel Stuhlpfarrer

«Jetzt wird es praktisch», twittert Andrey Holm am 7. Dezember 2016. Der renommierte Stadtsoziologe und Gentrifizierungskritiker soll Staatssekretär für Wohnen in Berlin werden. Noch vor dem Amtsantritt setzt eine mediale Debatte um Holms fünfmonatiger Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR ein. Für die einen ist Holm «eine Zumutung für alle Berliner», für andere ist er die Hoffnung auf eine Stadtentwicklung, die nicht Profit orientiert ist. Nach weniger als sechs Wochen im Amt kommt er seiner Entlassung zuvor, tritt vom Senatsamt zurück.

Das Buch ist die Wiedergabe eines langen Gesprächs zwischen Andrej Holm dem ehemaligen Staatssekretär für Wohnen in der Regierung von Berlin und den in Wien lebenden und arbeitenden Journalisten Samuel Stuhlpfarrer der zuletzt in der Reihe kritik & utopie den Band «Alle Verhältnisse umzuwerfen. Gespräche und Interventionen zur Krise, globaler Bewegung und linker Geschichte».

Zeitsprung. Anfang Dezember 2016 nominiert die Partei Die Linke Andrej Holm für das Amt des Staatssekretärs für Wohnen im rot-rot-grünen Regierungssenat des Landes Berlin. Holm ist seit vielen Jahren als Soziologe bekannt, der in seiner Forschungsarbeit die Kehrseiten neoliberaler Stadtentwicklungsprozesse in den Blick nimmt. Und: Er ist nicht nur als Forschender am Thema interessiert, er engagiert sich an der Seite von Stadtteilinitiativen für die Interessen der Mieterinnen und Mieter. Seine Berufung fällt aus dem Schema, entsprechend anerkennend geraten die ersten Reaktionen. Eine „faustdicke Überraschung“? sieht etwa die taz am 8. Dezember in Holms Berufung und stellt fest: „Wer den bekanntesten Kritiker der Baupolitik in höchste Ämter beruft, meint es ernst mit einer Politik im Interesse der Mieter“.

Der interessierten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist zu diesem Zeitpunkt Andrej Holms Vorgeschichte. 1970 wird er in der DDR in eine Familie geboren, die als systemloyal und politisch höchst bewusst beschrieben werden kann. Seine Mutter ist Mitglied der SED und arbeitet als Journalistin; sein Vater ist hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, er war auch mit der Überwachung der Ost-Berliner Literaturszene befasst.

Als 14-jähriger gibt Andrej Holm selbst eine Verpflichtungserklärung gegenüber dem MfS ab und beginnt nach bestandenem Abitur ebendort seine Ausbildung. Zur gleichen Zeit, im Spätherbst 1989, kollabiert die DDR, die Mauer fällt und die Institutionen des zweiten deutschen Staates gehen in einen Zustand der Auflösung über.

Andrej Holm sitzt noch einige Wochen in seiner Dienststelle ab, bevor er sich kurzzeitig als Flugbegleiter bei der Interflug verdingt. Im Frühjahr 1990 besetzt Holm mit Freunden ein Haus in Berlin-Mitte und wird bis 1995 fester Bestandteil der linksautonomen Hausbesetzerszene in der Stadt bleiben. Zwölf Jahre später findet sich sein Name für mehrere Wochen auf den Innenpolitik-Seiten der deutschen Presse. Unter dem Verdacht, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, wird er in Untersuchungshaft genommen. Die Vorwürfe erweisen sich schließlich als haltlos – Andrej Holm wird entlassen und drei Jahre später endgültig rehabilitiert. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits in Soziologie dissertiert, ist an -unterschiedlichen Universitäten in festen Stellen tätig und als Experte für Fragen der Stadtentwicklung zunehmend gefragt.

Noch am Abend des 8. Dezember 2016 fasst ein anonymer User auf dem Blog der F.A.Z. Holms Werdegang schlaglichtartig zusammen? Er verweist dabei unter anderem auf ein Gespräch mit der taz aus dem Jahr 2007. In diesem Interview - es kommt auch im vorliegenden Band ausführlich zur Sprache - räumt Holm erstmalig seine begonnene Ausbildung als Offiziersschüler beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR öffentlich ein.
Deutsch-deutsche Geschichte – empfehlenswert.
khw


Kommen. Gehen. Bleiben. – ANDREJ HOLM IM GESPRÄCH
mit Samuel Stuhlpfarrer

Verlag mandelbaum Reihe kritik & utopie, Berlin 2017
260 Seiten – 17,00 EUR