19.07.2018
Sven Felix Kellerhoff: EIN GANZ NORMALES POGROM – November 1938 in einem deutschen Dorf

Das heutige Bild des Novemberpogroms bestimmen Vorgänge in Berlin, Hamburg, München oder Düsseldorf. Das erschreckende und schockierende an den antisemitischen Übergriffen der sogenannten «Reichskristallnacht» - sollten wir nicht besser sagen «Reichsprogromnacht» - fand bis in die Provinz hinein statt. Auch in den Dörfern gab es einen erschreckenden Judenhass. Erschreckend auch, weil sich Opfer und Täter kannten, da sie im Dorf auf engste zusammenlebten. Der Autor Sven Felix Kellerhoff erzählt das Schicksal der Betroffenen aus dem Winzerort Gunterslum in heutigen Bundesland Rheinlandpfalz.

Sven Felix Kellerhof, 1971 geboren, studierte an der Freien Universität Berlin Neuere und Alte Geschichte, danach absolvierte er die Berliner Journalisten-Schule. Seit 1993 arbeitet er als Journalist unter anderem für die Berliner Zeitung, Die Welt, die Badische Zeitung und dem Bayerischen Rundfunk. Seit 2003 ist er leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte in der Welt. Alle seine Bücher beschäftigen sich mit deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Autor Kellerhof schreibt: «Die Novemberpogrome 1938 brauchten beides: den grundsätzlichen Auftrag der Staatsspitze und lokale Initiativen, in denen nationalsozialistische Aktivisten ihren aufgestauten Hass abreagierten und sich häufig gleich noch selbst bereicherten. Genauso war es bei der Judenverfolgung insgesamt: Möglich wurde dieses mit Abstand schlimmste Verbrechen der mitteleuropäischen Geschichte nur, weil der Wille der Regierung auf die Bereitschaft ausreichend vieler Täter traf, schrittweise und mit oft grausamer Kreativität die Diskri- minierungs- und Verfolgungsmaßnahmen gegen eine kleine Minderheit zu eskalieren. Erst dieser doppelte Antrieb führte zur »kumulativen Radikalisierung«, die der Historiker Hans Mommsen zu Recht als die treibende Kraft beschrieb, die schließlich zum Holocaust führte.

Der millionenfache Mord fand nicht deshalb statt, weil Hitler sowie seine Helfershelfer Himmler und Heydrich ihn einfach angeordnet hätten und die Täter im Befehlsnotstand hätten gehorchen müssen. Er fand auch nicht statt, weil alle oder wenigstens die allermeisten Deutschen von einem »exterminatorischen«, also ausrottungswilligen Antisemitismus getrieben gewesen wären, wie der US-Politologe Daniel Goldhagen vor gut zwei Jahrzehnten behauptete. Die Wirklichkeit war viel schlimmer: Sechs Millionen Menschen mussten sterben, weil untergeordnete Dienststellen und Einzelpersonen sich die nationalsozialistische Maxime des Judenhasses zu eigen machten und sie mit aller Kraft so gründlich umzusetzen versuchten. Erst dieses furchtbare Engagement sorgte dafür, dass völlig unschuldige Menschen bis in die letzten Winkel Deutschlands, später des besetzten Europas diskriminiert, deportiert und umgebracht wurden.»

Meine erste Begegnung mit Juden hatte ich als 7-jähriger Junge in Wintermoor an der Chaussee. In den April-Tagen, an das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr, war im Bahnhof des Dorfes von der Britischen Royal Army - wohl in Unkenntnis - ein Deportationszug der Reichbahn bombardiert worden. Die Wände der reetgedeckten Kate, in der wir lebten wackelten durch die Denation der Bomben. Kurze Zeit später klopfte es an unserer Tür mit der Frage nach einem Stück Brot. Der Zug war auf dem Weg zum Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Das Buch ist gerade für jüngere Menschen geeignet.
khw


Sven Felix Kellerhoff: EIN GANZ NORMALES POGROM
November 1938 in einem deutschen Dorf

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018
244 Seiten - zahlreiche sw-Fotos – 22,00 EUR