19.07.2018
Sven Deppisch: Täter auf der Schulbank
Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust

Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust oder dunkle Vergangenheit im Schatten - eine verspätete Auseinandersetzung mit der Rolle der Polizei im Nationalsozialismus.

„In fließendem Deutsch antwortet auf unsere Fragen der Judenälteste im Ghetto von Sm„ einer einstmals mittleren Großstadt vor Moskau. Die Stadt selbst ist nicht mehr; sie wurde heftig umkämpft und hat daher schwer gelitten. In einem der wenigen noch einigervermaßen bewohnbaren Stadtteile sind die Juden nun unter sich - im Ghetto. Besagter Judenältester hat einstmals Deutschland mit seiner Anwesenheit beglückt und ist dann nach den Frühlingsstürmen des Jahres 1933 ausgerückt in das wirkliche, gelobte Paradies. Er ist ein echter Jude: seine Klagen gelten nicht etwa der neuen Lage und den Deutschen, sondern seinen eigenen Rassegenossen, die er beschimpft und denunziert mit der leicht erkennbaren Absicht, sich hieraus Vorteile zu verschaffen. Geradezu widerlich ist seine Lobhudelei auf das, gutte Deitschland’, so dass wir ihm verbieten müssen, unser Vaterland überhaupt mit seinem dreckigen Munde zu nennen. Nun ist diese Judenpracht vorbei - vorbei Freizügigkeit und Herrendünkel, bevorzugte Stellungen und Schmarotzertum. Sie wissen sehr wohl, was ihnen blüht, diese nur durch Ausrottung zu vertreibende Pest!“1

Das Zitat stammt nicht aus der Feder eines Kriegsberichterstatters des „Dritten Reichs“ oder von einem Mitglied der Waffen-SS noch einem Aufseher eines Konzentrationslagers (KZ) brachten diese Zeilen zu Papier. Hier schrieb auch kein führender Propagandist oder Ideologe des NS-Staats. Der Mitte Dezember 1941 veröffentlichte Text hatte Polizeioberleutnant Erich Erkner verfasst, der überraschend ehrlich und deutlich darauf hinwies, dass die Judenvernichtung in dieser Phase des Ostkriegs in vollem Gange war. Er war ein Offizier der Ordnungspolizei, der sich wie viele seiner Kollegen im „auswärtigen Einsatz“ befand, von dem zahlreiche „Gesetzeshüter“ als Massenmörder zurückkehrten. Tausende Polizisten beteiligten sich während des Zweiten Weltkriegs maßgeblich an den Verbrechen der NS-Diktatur. Es waren deutsche Ordnungskräfte, die in den besetzten Gebieten Osteuropas agierten, an den Erschießungsgruben abertausende jüdische Opfer töteten und so ihren schrecklichen Beitrag zur Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums leisteten. Daneben bildeten sie eine zentrale Säule der deutschen Besatzungspolitik und bereiteten einer Entwicklung den Weg, der über Ghettos und Deportationszüge letztlich in die Vernichtungslager führte. Ohne die Polizei wäre der Holocaust nicht möglich gewesen.

Diese Tatsache und das obige Zitat passen so gar nicht in das Bild, dass die Deutschen von ihrer Polizei haben. In der Populärkultur erscheint der Polizist meist als „Freund und Helfer“ oder als heldenhafter Ermittler, der mit kriminalistischem Spürsinn und rechtsstaatlichem Idealismus für Gerechtigkeit und gegen Verbrecher kämpft. Kriminalromane und Fernsehsendungen verpassen der Ordnungsmacht ein glorifizierendes Image, an dem di Exekutive in ihrer eigenen Öffentlichkeitsarbeit anzuknüpfen versucht. Trotzdem werden Staatsdiener bei Demonstrationen regelmäßig durch Randalierer gezielt angefeindet oder sogar tätlich angegriffen, weil sie in ihnen vielmehr Vertreter eines brutalen Polizeistaats zu kennen glauben. Obwohl sie durch das Fehlverhalten einzelner Beamter immer wieder am medialen Pranger stehen, vertrauen die Bundesbürger dennoch keiner Institution so sehr wie der deutschen Polizei. Schließlich geht die breite Öffentlichkeit davon aus, dass Gesetzeshüter eher Verbrechen verhindern oder zumindest aufklären, anstatt selbst welche zu begehen. Umso erstaunlicher ist es, dass die dunkle Vergangenheit der deutschen Ordnungsmacht nach Ende des Zweiten Weltkriegs viele Jahrzehnte lang nicht nur der Gesellschaft eine algemeine sondern auch speziell der Forschung verborgen blieb. Allenfalls erschien die Polizei als Komparse der deutschen Geschichte, wie etwa während der Studentenunruhen der späten sechziger Jahre, bei der gescheiterten Geiselbefreiung im Rahmen des Olympia-Attentats in München 1972 oder im Kampf gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) und weitere linke Terrorgruppen.

Aber von solchen Ausnahmen einmal abgesehen, blickten deutsche Historiker lange Zeit kaum in das „Auge des Gesetzes“. Vor allem dessen Rolle im „Dritten Reich“ war über einige Dekaden hinweg kaum Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Stattdessen ließen sich Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit von der Legende der „sauberen“ Polizei allzu leicht blenden, obwohl die NS-Diktatur schon frühzeitig gerne als „Polizeistaat“ bezeichnet wurde. Erst wenige Jahre vor Ende des vergangenen Jahrtausends löste sich dies Paradoxie auf, als die Forschung ganz allgemein die nationalsozialistischen Täter für sich entdeckte. Das war aber größtenteils einem wachsenden Interesse an der Geschichte der deutschen Polizei zu verdanken. Nun offenbarte sich, dass sich die Polizeigeschichts- und die Täterforschung nicht nur ergänzten, sondern auch eine Entwicklung vollzogen hatten, die zu weilen parallel verlaufen war.

Ein aufschlussreiches Sachbuch, das belegt, das Jahre zu spät mit der Aufarbeitung der Ordnungspolizei im Dritten Reich begonnen wurde.
khw


Sven Deppisch: Täter auf der Schulbank
Die Offiziersausbildung de Ordnungspolizei und der Holocaust

Tetum ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft
Baden-Baden 2017
667 Seiten - zahlreiche Fotos -39,95 EUR