19.03.2018
Wladimir Kaminer: AUSGERECHNET DEUTSCHLAND
GESCHICHTEN UNSERER NEUEN NACHBARN

Wladimir Wiktorowitsch Kaminer wurde am 19.Juli 1967 in Moskau geboren, die Mutter ist Lehrerin, der Vater Betriebswirt der in einem Betrieb der Binnenflotte der UdSSR arbeitet. Die Familie von jüdischer-russischer Herkunft.

Von 1986 bis 1988 leistete Wladimir Kaminer seien Wehrdienst in einer Raketenstellung vor Moskau ab, erlebte dabei das Debakel der sowjetischen Flugabwehr, den nicht bemerkten Einflug des Wedeler Mathias Rust und seine Landung auf dem Roten Platz in Moskau.

Nach Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk studierte er Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Sein Studium verdiente sich Kaminer als Veranstalter von Partys und Untergrundkonzerten der Moskauer Rockszene. Im Juni 1990 bekam Kaminer humanitäres Asyl in der noch bestehenden DDR. Den Grund konnte ich in meiner Recherche nicht finden. Noch vor den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 erhielt er die Staatsbürgerschaft der DDR, danach automatisch die der BRD. Seit langer Zeit lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin am Prenzlauer Berg.

Auf Seite 225, im Kapitel - Haben wir es geschafft? - schreibt Wladimir Kaminer: »Warum ticken deine Russen so konservativ?«, wundern sich meine deutschen Freunde. Ich nehme meine Landsleute dann immer in Schutz.
»Sie sind nicht konservativ«, sage ich, »sondern vom falschen Sozialismus beschädigt.«

Ich weiß, dass viele meiner Landsleute, die in Deutschland leben, AfD wählen und über die Flüchtlinge schimpfen. Sie sind keine bösen Menschen, die jeden Fremden am liebsten sofort erwürgen würden und auch keine leichtgläubigen Analphabeten, die dem aufkommenden Populismus auf den Leim gegangen sind. Viele von ihnen sind klug, belesen und gut gebildet. Sie sind bloß durch ihre Erfahrungen in der sozialistischen Sowjetunion verdorben. Die aufgezwungene Freiwilligkeit des russischen Sozialismus hat aus uns misstrauische Zweifler und Zyniker gemacht. Viele haben jetzt Angst, im Internet mit dem Wahlomat zu spielen. Denn egal wie liberal sie sich geben, es kommt immer irgendetwas Rechtsradikales dabei heraus.

Sie sind zum Beispiel gegen kostenlose Kindergärten, weil sie alle in kostenlosen Kindergärten aufgewachsen sind, und diese Kindergärten waren schlecht. Sie sind gegen kostenloses Mittagessen in der Schulkantine, weil sie wissen: »Nur den Speck in der Mausefalle gibt es umsonst«. So lautete eine alte sozialistische Weisheit. Wir haben alle in den sowjetischen Schulen für zehn Kopeken gegessen und noch immer Bauchschmerzen davon.

»Leute, die kein Geld für den Kindergarten haben, sollen eben selbst mit ihren Kindern mehr Zeit verbringen und nicht auf die anderen hoffen«, sagte mir neulich eine Landsfrau, die sich eigentlich als überzeugte Demokratin begreift und die Solidarität im eigenen Freundeskreis sehr zu schätzen weiß.

Echte Demokratie kann aus russischer Sicht nur dann gut funktionieren, wenn das Wahlrecht beschränkt wird. Idioten sollten nicht wählen dürfen. Rentner lieber auch nicht. Überhaupt müssten alle vom Staat Abhängigen zu Hause bleiben. Es sollten am besten nur diejenigen wählen dürfen, die diesem Staat mindestens einen Groschen mehr zahlen, als sie von ihm bekommen. Einer, der nur nimmt, wird immer den wählen, der ihm am meisten verspricht - und das ist Populismus pur, meinen die Russen.

Deswegen machen sich meine Landsleute viel mehr Sorgen um Europa als hier geborene Deutsche, die zu naiv und blauäugig sind. Sie wissen nicht, wie schnell ein Staat kippen kann. Die Russen wissen es.»
Kenntnis aus eigenem Erleben hat Wladimir Kaminer, was er in seinen Geschichten in « AUSGERECHNET DEUTSCHLAND» dem Leser mitteilt.
khw


Wladimir Kaminer: AUSGERECHNET DEUTSCHLAND
GESCHICHTEN UNSERER NEUEN NACHBARN

Wilhelm Goldmann Verlag in der Verlagsgruppe Random House
München 2018
236 Seiten - Broschur - 13,00 EUR