01.10.2019
Der Fall 20907/2017


Das Tribunal Supremo - Oberster Gerichtshof von Spanien - sprach am 14. Oktober sehr harte Urteile, die an die Justiz der Franco-Jahre erinnern, haben doch die Richter ihre Juristenausbildung noch in den Jahren der spanischen Diktatur in begonnen. Vorsitzender des Richterkollektivs ist Manuel Marchena Gòmez mit den Richtern María Ferrer García, Andrés Martínez Arrieta, Juan Ramón Bergudo Gómez de la Torre, Luciano Varela Castro, Antonío del Moral García und Andrés Palomo del Arco.

Besonders hart ist das Urteil für den ehemaligen Vizepräsidenten und Minister für Wirtschaft und Finanzen der katalanischen Regierung von 2017, Oriol Junqueras. Wegen «Volksverhetzung und Unterschlagung» wurde er zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht störte es nicht, dass Junqueras gewählter Abgeordneter des EU-Parlaments in Straßburg ist.

Zu 12 Jahren verurteilt auch wegen «Volksverhetzung und Unterschlagung» Jordi Turull (Ex-Ratsvorsitzender) und Raül Romeva (Ex-Außenminister). Ebenso 12 Jahre Haft bekam Dolors Bass «Ex-Ministerin für Arbeit und Soziales». Zu 11 Jahre und 6 Monate Haft wurde Carme Forcadell «Ex-Präsidentin des katalanischen Parlaments». Zu 10 Jahren und 6 Monaten Haftst wegen «Volksverhetzung» bekam der Ex-Innenminister Joaquim Forn und Josep Rull «Ex-Minister für Katalonien».

Neun Jahre Gefängnis wegen Volksverhetzung bekam Jodi Sanchez – ehemaliger Präsident der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und Jordi Cuixart, Präsident von Òmnium Cultural. Zu 1 Jahr und 8 Monaten Gefängnis wegen Ungehorsam wurden verurteilt Meritxel Borràs (Ex-Innenministerin), Carles Mundó (Ex-Justizminister) und der Wissenschaftsberater Santi Vila.

Die Urteile beziehen sich auf die Rollen der Angeklagten beim Referendum über die Unabhängigkeit von Spanien der wirtschaftlich stärksten Industrie- wie Tourismusregion vom 1. Oktober 2017. Das Tribunal Constitucional (Spanisches Verfassungsgericht) hatte die Abstimmung für illegal erklärt. Als die damalige katalanische Führung und Carles Puigdemont nach der positiven Abstimmung dennoch die Unabhängigkeit von Katalonien ausrief, wurde sie von der Zentralregierung in Madrid vom Ministerpräsident Mariano Rajoy von Partido Popular (PP) abgesetzt. Katalonien wurde mit dem Paragrafen 155 der Verfassung unter Zwangsverwaltung von Madrid gestellt, das Parlament in Barcelona aufgelöst. Der Präsident der Generalitat de Catalunya Carles Puigdemont und weitere Minister waren vor ihrer Festnahme ins Exil nach Belgien geflohen. Aus Waterloo twitterte Puigdemont nachdem ihm das drastische Urteil des Tribunal Supremo bekannt wurde: «Insgesamt 100 Jahre Haft - eine Barbarei».

Auch die Vermutung, dass Steuergelder für das Referendum verwendet wurden, konnte trotz Einsatz von Steuerfachleuten der Guardia Civil in dem Verfahren mit Kontobewegungen und Rechnungen nicht nachgewiesen werden.

In der Übergangsphase der «transición» vom Franquismus zur parlamentarischen Monarchie, sie wurde von Franciso Franco bestimmt, zeigt, dass das Gericht nicht unabhängig ist. Für die Richter ist Oriol Junqueras ein Ex-Grüner, heute Vorsitzender der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC). Keine Rolle spielte beim Urteil, dass er im Mai zum EU-Abgeordneten gewählt wurde, hat Madrid bereits blockiert. Junqueras, Turull, Romeva, und Bassa wurden auch für Unterschlagung verurteilt, was bisher noch nicht bewiesen wurde. Für die Präsidentin Carme Forcal erkannten die Richter den Strafbestand «Volksverhetzung», sie wie 8 weitere Katalanen befindet sie sich seit über Jahre bereits 2018 in Untersuchungshaft.

Umstritten ist auch die Verurteilung der beiden Jordis, die keine politischen Amtsträger waren, haben sie auch nicht gegen die spanische Verfassung verstoßen. Jordi Sánchez vom ANC und Jordi Cuixart vom Òmnium Cultural streben mit ihren Organisationen die Lösung Kataloniens von Spanien an. Die Programme der beiden Kulturorganisationen stehen im Einklang mit dem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Auch bei diesem Prozess wurde das Drehbuch nach politischen Vorgaben geschrieben. Um zu einem einstimmigen Urteil zu kommen, mussten die Anklagen abgespeckt werden, so wurden Rebellion und Aufstand nicht in die Anklage aufgenommen.

Der Richter am Tribunal Supremo, Pablo Llarena, hat nach Verkündung des Urteils am 14. Oktober 2019, erneut den Europäischen Haftbefehl für den ehemaligen Präsident der Generalitat de Catalunya Carles Puigdemont und Antoni Comín reaktiviert. Nun gilt, so Richter Llarena, ein vereinfachtes Verfahren, das die Zustellung nach Spanien erleichtert. Gestrichen wurde auch Rebellion, da dieser Tatbestand unter anderem weder von der Bundesrepublik, noch in der Schweiz und Belgien anerkannt wird.

In seiner ersten Stellungsname nannte der Präsident der Generalitat de Catalunya Quim Torra das Urteil: «eine Beleidigung der Demokratie wie eine Herabsetzung der katalanischen Gesellschaft». Er forderte sofortige «Freiheit der Verdammten einschließlich einer Amnestie.»

Das Urteil bringt eine neue Form des Protestes über Catalunya. Es ist nicht mehr allein die katalanische Kulturorganisation Òmnium und die Katalanische Nationalversammlung, der ANC. Nun protestieren die «Komitees zur Verteidigung der Republik» (CDR), der «Pícnic per la República» und auch der «Tsunami Demokràtic».

Die katalanische Hauptstadt Barcelona wie Katalonien kommt auch Tage nach dem Urteil gegen die führenden Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung nicht mehr zur Ruhe. Nach dem Chaos am Flughafen El Prat, der umbenannt wurde auf den Namen Josep Tarradellas, dem des letzten Präsidenten der Generalitat de Catalunya im Exil von 1955 bis zur Herstellung der politischen Autonomie Kataloniens 1980. Von dem Flughafen verlagerten sich am Montag die Proteste in den Folgetagen auf die Innenstädte Kataloniens, im Fokus stand aber Barcelona.

Am Dienstagabend hatten sich Zehntausende Demonstranten vor der Vertretung der Madrider Regierung in Katalonien versammelt. Die Proteste gegen die Verurteilung der Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung verliefen friedlich, doch später übernahmen radikale Gruppierungen das Kommando und skandierten auf katalanisch «Visca Catalunya Iliure» (es lebe das freie Katalonien). In dieser Nacht loderten mehr als zwanzig Feuer in der Stadt. Es brannten auch Müllcontainer, Schaufenster von Bankfilialen wurden zertrümmert. Die katalanische Tageszeitung «La Vanguardia» titelte nach den tumultartigen Unruhen am Mittwochmit mit der Schlagzeile: «Barcelona brennt».

Hinter den Aktionen vermutet die spanische Polizei vor allem Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung den «Komitees zur Verteidigung der Republik» (CDR). Diese Gruppierung ist seit zwei Jahren aktiv. Auch die neue Plattform «Tsunami Democràtic», die es am Montag schaffte, den Flugbetrieb von «Josep Tarradellas» in Barcelona lahmzulegen.

Diese Gruppe hat nach eigenen Angaben bereits über 275 000 Anhängerinnen und Anhänger. Organisiert etwa ähnlich wie die Protestbewegung in Hong Kong, die soziale Netzwerke wie Twitter, Instagram und den Messenger-Dienst Telegram benutzen. Mit Telegram verschickten sie am Montag an ihre Aktivisten falsche Flugtickets. Mit dieser Methode schmuggelten sich die Demonstranten auf dem von der Policía Nacional abgeriegelten Flughafen ein, sorgten bei der Abfertigung für ein großes Chaos. An diesem tag mussten 110 Flüge gestrichen werden.


Quim-Torra


Generalstreik am 18.10.2019 Barcelona


Demo im Parlament


Blockade Bahnhof


Demonstration auf der Straße

Policía Nacional im Einsatz gegen Demonstranten

«Der nächste Tsunami wird kommen», twitterte die Gruppierung am Mittwoch. Kolportiert wird von der SPOE nahestehenden Tageszeitung «El País», die mutmaßt, dass die katalanische Landesregierung und der frühere katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont hinter der schlagkräftigen Bewegung stehen. Tsunami Democràtic hatte sich zum ersten Mal bei einem Treffen Anfang September von führenden Vertretern der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung in Genf zu Wort gemeldet. Teilnehmer waren Carles Puigdemont und sein Nachfolger Quim Torra. «Wir wollen die Initiative ergreifen, unsere Werkzeuge sind Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam», ließ die neue Gruppe damals verlauten.

Von gewaltsamen Ausschreitungen in den letzten Tagen hat sich Tsunami Democràtic distanziert, die spanischen Sicherheitskräfte bleiben misstrauisch. Man werde herausfinden, wer hinter der Bewegung stecke, so der PSOE Innenminister Fernando Grande-Marlaska. Die polizeilichen Ermittler sprechen von einer gut durchstrukturierten Organisation, die ein hohes Mobilisierungspotenzial hat und über beachtliche finanzielle Mittel verfügt.

Die Oppositionsparteien von der Partido Popular, Ciudadanos und der pro-faschistischen VOX plädieren für ein hartes Durchgreifen in Katalonien. Sie forderten Ministerpräsident Sánchez auf, den Artikel 155 der spanischen Verfassung wieder zu aktivieren und Katalonien wieder unter Zwangsverwaltung zu stellen. Doch dazu ist Pedro Sánchez noch nicht bereit, will er doch die kommenden Wahlen gewinnen.

Die noch Regierung der PSOE in Madrid ist empört, dass der katalanische Regierungschef Torra die gewaltsamen Ausschreitungen bisher nicht verurteilt hat. Dafür begrüßte Torra die «Märsche für die Freiheit», die sich auf Barcelona zubewegen. «Die katalanische Regierung steht auf der Seite des Volkes», so Torra. Am Freitag kommen die fünf Marschsäulen in Barcelona zu einer neuen Großkundgebung.

Josep «genannt Pep» Guardiola, derzeit Trainer von Manchester City, vergisst nie seine Heimat. Der «Tsunami Democràtic» Bewegung ein Video gesandt mit der Aufforderung, nach dem Urteil Spanien zu zwingen, mit Katalonien im «Dialog mit Respekt» zu verhandeln. Mit diesem Video wird Pep Guardiola zum ersten Gesicht der «Tsunami Democràtic»-Bewegung. Auch der Fußballclub von FC Barcelona - kurz Barca genannt - hat sich positioniert, warnte davor, dass das Gefängnis nicht die Lösung sein. Unterstützt wird die Barca-Erklärung von den Fußballspielern Gerard Piqué und Sergi Roberto.
khw


Santiago Abascal - Vorsitzender pro-faschistischen VOX-Partei

Oriol Junqueras

Javier Ortega Smith - Abgeordneter der VOX und Rechtsanwalt


Nachtrag: Zum Streik und Protesttag am 18. Oktober 2019

Über eine halbe Million Katalanen, von Schülern, Studenten, Hausfrauen, Angestellten, Arbeitern Wissenschaftlern, Professoren oder Rentnern haben sich am Freitag in Katalonien an neuen Protesten gegen die Verurteilung führender Repräsentanten der Unabhängigkeitsbewegung beteiligt. Zu einem Generalstreik, er legte Katalonien lahm, hatten auch die Gewerkschaften Comisiones Obreras (CCOO) und die Unión General de Trabajadores (UGT) aufgerufen. Nach Angaben des Arbeitsministeriums legten im Handel etwa bis zu 80 Prozent der Beschäftigten die Arbeit nieder, gleichfalls an den Universitäten und im öffentlichen Dienst etwa 30 Prozent der Angestellten. Für das Gesundheitswesen wurden weitreichende Notdienste angeordnet. Durch den Generalstreik mussten 57 Flüge am Boden bleiben. In der Oper von Barcelona, das «Gran Teatre de Liceu» an der Rambla fand keine Vorstellung statt. Ebenso geschlossen war auch die Antoni Gaudí Kirche Sagra Familia, mit dem vollständigen katalanischen Namen «Basílica i Temple Expiatori de la Sagrada Família». Geschlossen die Autofabrik von SEAT, eine VW-Tochter, wo in der Stadt Martorell dem Sitz des Autobauers die 6.500 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten. Das meldete das Televisió de Catalunya (TV3) in seinen Nachrichtensendungen, so auch das Catalunya Radio, das stündlich Information nicht nur über den Streik, auch über die fünf Marschsäulen, die sich unter anderem von Vic, Tarragona, Girona, Lleida auf Barcelona zu bewegten. Für ihren Marsch wurde die Autobahnen benutzt, von den Mossos d'Esquardra, der Kakalonischen Polizei geschützt.

Auch dass sich der im belgischen Exil lebende ehemalige katalanischer Regionalpräsident Charles Puigdemont, nachdem das Gericht in Madrid den EU-Haftbefehl wieder reaktiviert hat, meldete sich freiwillig in Brüssel bei der Polizei. Vor Journalisten sagte er, er sei einem Richter vorgeführt worden, der ihn «ohne Kaution» freigelassen habe.

Zur zentralen und friedlichen Großkundgebung in Barcelona versammelten sich die Demonstranten auf der Plaça de Catalunya und in umliegenden Straßen: von Passeig de Gràcia, der Ronda de Sant Pere bis zur Rambla.
In den späten Abendstunden kam es zu Ausschreitungen. Bereits vor der Großdemonstration der Katalanen gab es Protest von der Profaschistischen VOX Partei und auch von der sich auch bürgerlich und liberal zeigenden Ciudadanos. In wieweit Provokateure die Urheber der nächtlichen Krawalle sind, ist noch nicht ermittelt.

«Die Schuld an den gewalttätigen Protesten in Katalonien tragen die politischen Führer um Ministerpräsidenten Quim Torra» kommentierte am 18. Oktober Hans-Günther Kellner im Deutschlandfunk. Weiter heißt es: «Jetzt die Freiheit für rechtmäßig verurteilte Separatisten zu fordern, sei falsch.» Der Kommentar endet: «doch Ministerpräsident Quim Torra tut das Gegenteil, stellt unmögliche Forderungen, Freiheit für die Verurteilten, als sei das in einem demokratischen Rechtsstaat möglich. In einer Vorwärtsverteidigung hat er jetzt sogar ein neues Unabhängigkeitsreferendum angekündigt. Die konservative Opposition im spanischen Parlament fordert nun sogar schon wieder die Zwangsverwaltung oder den Ausnahmezustand in Katalonien. Das ist Politik mit dem Benzinkanister in der Hand - mitten im Spanischen Wahlkampf.»
Spricht so ein Demokrat?
khw

Noch ein Nachtrag

Die Nacht zum 21. Oktober war es ruhig in Barcelona. Demonstranten warfen in der Halbmondnacht in einem Akt der Verachtung Plastikmülltüten vor die Zentrale der Madrider Regierung. Mit seinem Barcelona-Besuch demonstrierte Pedro Sánchez nicht die Fortführung des Katalonien-Konfliktes sondern den Vorwahlkampf der PSOE. Auf dem Weg in die katalanische Metropole handelt es sich um eine „Krise der öffentlichen Ordnung“ und nicht um eine Neuauflage des Katalonien-Konflikts, sondern des zur Hochform auflaufenden Wahlkampf.

Fast zeitgleich reisten in Barcelona ein der Vorsitzende der Partido Popular Pablo Casado und der Parteichef der Ciudadanos Albert Rivera. Casado will verhindern, dass den neun Verurteilten Unabhängigen Hafterleichterungen bekommen, aus den katalanischen Gefängnissen in kastilische Gefängnisse verlegt werden. Dafür ist auch Rivera und besonders der Chef der rechtslastigen VOX-Partei Santiago Abascal, ehemals Mitglied der Partido Popular.

Wenn am 24. Oktober die Überführung von Francisco Franco aus dem «Valle de los Caídos» in das Franco eigene Mausoleum auf dem Friedhof von El Pardo stattgefunden hat, hofft Pedro Sánchez, dass er am 10. November die Wahl gewinnt, keiner Minderheitsregierung mehr vorsteht. Zu hoffen ist, dass nicht das Rechtelager aus Partido Popular, Ciudadanos und VOX das Rennen macht.
khw